Ring frei für gutes Benehmen

„Boxen statt Gewalt“ heißt das Motto des Nachwuchsvereins von SC Eintracht Berlin im Stadtteil Hellersdorf. Das Sportprojekt soll Heranwachsenden eine sinnvolle Alternative bieten. Die Trainer leisten Erziehungsarbeit – und haben nebenbei Deutsche Meister hervorgebracht

Beim Boxen können die Jungs ihre überschüssige Energie loswerden und in Zweikämpfen Erfolge feiern

VON THOMAS JOERDENS

Dumpfe Schläge, trampelnde Füße und scharfe Kommandos dringen durch die geöffneten Türen von der Turnhalle herüber in den kleinen Nebenraum. Dort ist der Geräuschpegel niedriger; dafür geht’s zu wie in einem Taubenschlag. Ständig kommen Jungs mit Trainingstaschen herein, sagen „Guten Tag“ oder verabschieden sich per Handschlag; andere steigen in Socken und Unterwäsche auf die Personenwaage neben dem Kühlschrank und notieren auf einer Liste ihr Gewicht. „Und, wie viel?“, fragt Horst Gülle. „68“, antwortet der kompakt gebaute Jugendliche. Für den Wettkampf in Litauen in anderthalb Wochen will Ibrahim Trena noch 4 Kilo runter. „Klar, das schaffste schon, mein Junge“, ermuntert Horst Gülle und schreibt sich „64“ auf einen anderen Zettel.

Horst Gülle bringt das Gewusel nicht aus der Ruhe. In seinem knapp zehn Quadratmeter engen Reich mit billigen Büromöbeln und fauchender Kaffeemaschine sitzt der 74-Jährige an einem hellen Holztisch. Von dort organisiert der Cheftrainer Wettkämpfe, beratschlagt sich mit den übrigen Trainern oder spricht mit den Jungs. Horst Gülle fragt, hört zu, gibt Tipps und erzieht die Heranwachsenden nebenbei auch noch. Beim Boxring Eintracht Berlin geht es nicht nur um Sport, sondern auch um ein Stückchen Sozialarbeit: „Boxen statt Gewalt“ heißt das Klubmotto.

Die Idee für das sozial engagierte Sportprojekt hatte Mitte der 90er-Jahre Harald Lange. Der 52-jährige Chef einer Reinigungsfirma sah in seinem Kiez, der Hellersdorfer Platte, zahlreiche Jugendliche auf der Straße herumlungern. Unter ihnen eine Menge zugezogener Russlanddeutscher sowie gebürtige Berliner, die sich aggressiv durch die Straßen bewegten, Ärger suchten und auch fanden. Der Ex-Boxer und Trainer aus Schwerin wollte diesen gewaltbereiten Jungmännern eine sinnvolle Alternative bieten. Boxen lag für Harald Lange auf der Hand, weil sich solche Burschen seiner Meinung nach in der Regel „nicht für Halma oder Basketball“ begeistern. Beim Boxen könnten sie ihre überschüssige Energie loswerden und in Zweikämpfen bei Turnieren oder Meisterschaften Erfolge feiern. So etwas motiviert und gibt Selbstvertrauen.

Zu „Boxen statt Gewalt“ gehört außerdem, dass Horst Gülle den Nachwuchsboxern Sekundärtugenden, wie Benimmregeln, Disziplin und Sauberkeit, sowie Fairness und Rücksichtnahme beibringt. Wenn in den Trainingskämpfen, den so genannten Sparringskämpfen, ein Erfahrener gegen einen Neuling antritt, redet Horst Gülle dem Überlegenen vorher ins Gewissen: „Halt dich ein bisschen zurück und lass’ den anderen gut aussehen, damit der auch ein Erfolgserlebnis hat.“ Häufig funktioniere das, sagt Horst Gülle.

Er ist ein alter Hase im Boxgeschäft, war in den 1950er-Jahren selbst aktiver Boxer und von 1965 bis 1975 Cheftrainer bei Dynamo Berlin. Der weißhaarige Rentner sagte sofort zu, als ihn sein Kumpel Harald Lange fragte, ob er den gewaltpräventiven Boxstall in Hellersdorf aufbauen wolle, den der Unternehmer aus der eigenen Tasche und mit Sponsoren finanziert.

Ob sich junge Leute von Straßenschlägern zu Beschützern der Schwachen gewandelt haben, wissen Gülle, Lange und Co nicht. Aber sie glauben an ihr Konzept und stoppen ihr Engagement nicht an den Türen der beiden Turnhallen, in denen der Boxring täglich trainiert. Horst Gülle und die vier Trainer stehen in Kontakt mit Eltern, Lehrern und Sozialarbeitern. Und wenn einer der Jungs wegen einer Prügelei zu Sozialarbeit und einem Anti-Aggressionstraining verdonnert wurde, wird das in Horst Gülles Kabuff unter vier Augen besprochen. „Wir erteilen auch Boxverbote“, sagt der Cheftrainer, der noch niemanden rausgeschmissen hat. Dafür bleiben manchmal die Jugendlichen weg. Horst Gülle erinnert sich an Boxtalente, die schon mit 15 Jahren an der Flasche hingen, immer seltener zum Training erschienen und irgendwann ganz weggeblieben sind. Doch das seien Ausnahmen.

Die Jungboxer, die zunächst in zwei Kellern eines Plattenbaus trainierten, sammeln seit 1995 regelmäßig Preise, Pokale, Titel. Zuerst auf Landesebene, ab 1997 auch bundesweit. Als der Boxring vor sechs Jahren in die alte Turnhalle zog und 2004 eine zweite hinzu bekam, verdreifachte sich die Mitgliederzahl. Etwa 150 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zählt Horst Gülle aktuell in seiner Kartei. Darunter etwa 40 Prozent Deutsche plus viele Russlanddeutsche, einige Kosovo-Albaner und wenige Türken, Kolumbianer, Mosambikaner.

Der Boxring leistet deutschlandweit mit die beste Nachwuchsarbeit. Faruk Shabani, einer der erfolgreichsten Boxer aus dem Hellersdorfer Verein, kämpft in der Bundesliga. Auf solche Erfolge und die zahlreichen Deutschen und Berliner Meister ist Horst Gülle natürlich stolz. Doch wenn er zu Schuljahresbeginn wieder die Grundschulen in Hellersdorf und Marzahn abklappern wird, um den Zehnjährigen Appetit auf ein Probetraining im Boxring zu machen, hat Horst Gülle nicht bloß die Mike Tysons von morgen im Visier.

In der mit Graffiti besprühten Halle hauen auch dicke Jungs nach Kräften in den Boxsack, springen Seil oder stehen im Sparringsring. Die Trainer fordern die Schmächtigen und Kleinen, die ebenso wenig Aussichten auf Siege und Titel haben wie die Moppeligen, genauso wie die Sportskanonen. Bei allen soll Spaß im Vordergrund stehen. „Jeder trainiert nach seinen Möglichkeiten. Wenn einer beim Laufen länger braucht als die anderen, dann ist das eben so“, sagt Otto Ramin, bis vor einem Jahr Bundestrainer und seit September beim Boxring Eintracht Berlin für die Männer und die Junioren verantwortlich. Die Schwächeren werde der Verein als Trainer vermitteln.“

Die jungen Boxer geben sich zwar einsilbig, wirken aber zufrieden. Als „cool“, bezeichnet Alexander Maurer den Sport. Seine Mutter hat ihn vor vier Jahren angemeldet. Kürzlich holte der 14-jährige Russlanddeutsche, der fünf bis sechs Mal in der Woche trainiert, seinen ersten Deutschen Meistertitel. Sein ein Jahr älterer Boxkumpel Christoph Metzger hatte es erst mit Fußball ausprobiert. Vor fünf Jahren kam der Berliner über seinen Cousin zum Boxsport. „Hier kann ich mich mehr auspowern und sehe meine eigene Leistung“, sagt der Deutsche Vizemeister 2005 und 2006.

Ibrahim Trena steht neben dem Ring und bandagiert sich fürs „Tatzentraining“ mit Otto Ramin. Der 18-jährige Kosovo-Albaner boxt seit fünf Jahren und ist vor drei Monaten zum Hellersdorfer Klub gewechselt. „Wegen des intensiveren Trainings“, meint der dreimalige Berliner Meister, dessen Ziel Deutscher Meister heißt.

Im Büro von Horst Gülle ist ein bisschen Ruhe eingekehrt. Der Cheftrainer schreibt gerade Quittungen für die Mitgliedsbeiträge. Bis Ende letzten Jahres hatte er selbst noch einige Gruppen trainiert. Auch wenn sich der Box-Oldie aus dem aktiven Boxgeschäft zurückgezogen hat, ist die Arbeit für ihn beim Boxring nicht weniger geworden. Er hängt sich nach wie vor sieben Tage in der Woche in seinen Lieblingssport und übt dabei großen Einfluss auf den Boxnachwuchs aus. Die gute Seele des Vereins begleitet die jungen Sportler zu den meisten Kämpfen, feuert sie an, feiert mit ihnen Siege oder tröstet sie nach Niederlagen.

Infos: Kontakt zum Projekt „Boxen statt Gewalt“ im Boxring SC Eintracht Berlin: Telefon (0 30) 5 63 35 69 oder Internet: www.sc-eintracht-berlin.de