Fluch der Karibik

Lenin ist tot, Che ist tot, und Fidel Castro macht wohl auch keine großen Sprünge mehr. Dabei war die nostalgische Sicht der Linken auf den Sozialismus in Kuba immer schon ein Blick in den Spiegel

VON HELMUT HÖGE

Fidel Castro tritt langsam ab, aber sein „Sozialismus mit karibischem Antlitz“ bleibt – durch seinen jüngeren Bruder Raúl quasi garantiert. In Ost- wie Westdeutschland hat man viel Hoffnung in dieses Projekt („being a pain in the ass of the United States) gesteckt. Auch ich meldete mich 1969 bei der kubanischen Botschaft als Kaffee-Ernter, gelangte real aber erst 1988 auf die Insel – als Tourist. Da herrschte schon ein wenig Endzeitstimmung.

In den Strandcamps – der Schweinebucht zum Beispiel – bekam man manchmal statt Frühstück nur Livemusik mit schwarzem Kaffee vorgesetzt. Mich hat immer die kubanische Rinderzucht interessiert, zu dessen Verbesserung Raúl Castro preisgekrönte Bullen aus der ganzen Welt erwarb und durcheinanderkreuzte, um eines der Ziele der kubanischen Revolution zu realisieren: jedem Kind jeden Tag ein Glas Milch.

Ungeachtet aller hippieesken Träume war es doch vor allem die geglückte kubanische Revolution, angeführt von Fidel Castro und Che Guevara, die uns begeisterte, auch wenn Guevara mit seiner partisanischen Strategie dann in Bolivien traurig scheiterte. „Live fast, die young“ – lange vor dem Film „Easy Rider“ hatte Che mit seinem Motorrad den lateinamerikanischen Kontinent durchquert.

Für Régis Debray, Hans Magnus Enzensberger, Günter Maschke und viele andere „68er“ war Che Vorbild – bis ihre Liebe zu Kuba den Diskurs-Konjunkturen folgen und verblassen musste. Inzwischen kritisieren sie längst die Verletzung der Menschenrechte unter dem Diktator Castro. Schon dass kubanische Soldaten die Revolution in Afrika einmal mit Waffengewalt vorantreiben wollten, nehmen sie Castro heute übel. Anders die staatssozialistisch denkende Linke (jetzt ohne Staat) im Osten, vor allem die Organisation „Kuba Si“. Sie verteidigt die Errungenschaften der castristischen Revolution umso vehementer, je weniger die Linken im Westen noch etwas davon wissen wollen.

Die Marxisten Gilles Deleuze und Félix Guattari gaben ihnen in diesem Zusammenhang bereits zu bedenken, dass das „Revolutionär-Werden“ etwas ganz anderes ist als „die Revolution – rückblickend“. Schon die englischen Romantiker wurden nicht müde, Cromwell zu verdammen, „und ihre Argumente ähnelten verblüffend den heutigen“ – siehe Stalin.

In der DDR war die Solidarität mit Kuba eine Domäne der Romantiker und ging so weit, dass die Kubaner, die sich zur Ausbildung und Arbeit in der DDR aufhielten, als begehrte Heiratskandidaten gehandelt wurden. Da verband sich Revolutionsromantik mit Fernweh. Diejenigen DDR-Bürger, die umgekehrt das Glück hatten, dort auf Baustellen oder in Fabriken zu arbeiten, stöhnten jedoch oft über das kubanische Chaos und die Faulheit. Sie sprachen von einem „Fluch der Karibik“. Tatsächlich ist es kein Zufall, dass es ein kubanischer Theoretiker der Arbeiterbewegung war (Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Karl Marx), der „Das Recht auf Faulheit“ einklagte. Was in Deutschland der Rasenmäher und die Motorsäge, das ist auf Kuba der Schaukelstuhl: in jeder Familie gibt es mindestens vier.

Zu diesem Thema hielt Fidel Castro 1988 eine seiner berühmten langen Reden in Havanna: „Im Kapitalismus arbeitet man für den Unternehmer, der einen ausbeutet. Deswegen gilt dort: Siesta si – Trabajo no! Anders im Sozialismus, wo man für das Volk arbeitet. Hier muss es deswegen umgekehrt heißen: Trabajo si – Siesta no!“ Diesen Satz wiederholte Castro so lange, bis alle sich in den Hüften wiegten und dazu rhythmisch „Trabajo si – Siesta no“ skandierten. Eine sympathische Form von Umerziehung.

Ich hörte diese Rede zusammen mit einem Bauarbeiter, der sogar in der Partei war – aber jeden Tag blaumachte, um mit mir durch Havanna zu schlendern. Einmal fragte ich ihn, ob er nicht arbeiten müsse. Nein, sagte er, es sei sowieso kein Baumaterial da.

Die Exportprodukte von Kuba sind Kaffee, Zigarren, Rum, Musik und Zucker. Umgekehrt hat die Sowjetunion früher neben Benzin, Maschinen und Haushaltsgeräte vor allem verdiente Genossen auf die Insel geschickt – zur Erholung. Auch das ist ein regelrechter „Fluch der Karibik“ (2). Im Rechenschaftsbericht des sowjetischen Funktionärs Alexej Fjodorow („Das illegale Gebietskomitee arbeitet“) heißt es: Selbst dem alt gewordenen ehemaligen Partisanen „entsteht noch im Urlaub auf Kuba beim Meeresrauschen und beim Rascheln der Palmen vor seinem inneren Auge immer wieder der Partisanenwald“.

Fast schien Fjodorow sich zurückzusehnen in sein unterkühltes Leseland Sowjetunion. So ähnlich ging es mir auf Kuba aber auch: Als Norddeutscher kann ich mir einen vernünftigen Sozialismus ohne wenigstens ein bisschen Arbeitslager nicht vorstellen.