Schauplatz, Kampfplatz, Dorfplatz


„Sie wollen uns mit einer Nullachtfuffzehn-Sanierung abspeisen – wenn überhaupt“

AUS DÜSSELDORF MAREN MEIßNER

Das Haus Kiefernstraße 1 fällt auf. Es ist bunt, von oben bis unten. Die fünf Stockwerke sind ein einziges großes Wandgemälde, die Bilder und Graffiti reichen bis zu den Schornsteinen. Über dem Eingang hat der Wind ein aufgehängtes Plakat aufgerollt. An einigen Stellen bröckelt der Putz, haben die Bilder von Comicfiguren und Dschungelpflanzen Risse. Die Fenster sind marode.

Und genau darum geht es in der Kiefernstraße im Düsseldorfer Stadtteil Flingern. „99 Jahre nach der Erbauung und 25 Jahre nach der ersten Besetzung wird dieser besondere Straßenzug durch kurzsichtige Verwaltung dem Verfall preisgegeben“, heißt es auf www.kiefern.de. „In anderen Häusern ist es viel schlimmer als hier“, sagt Norbert Machinek, der in der Kiefernstraße 1 wohnt und gerne Besucher durch seinen Kiez führt. Jetzt muss der 48-Jährige erstmal Zigaretten kaufen. Er trägt Jeans, Birkenstockschuhe und ein T-Shirt mit dem Logo der Düsseldorfer Punkband „Die Toten Hosen“.

Auf der anderen Straßenseite, schräg gegenüber der „Kiefern 1“, gibt es einen Kiosk. Menschen aller Altersklassen hocken davor auf der Straße und unterhalten sich. „Die Straße ist zugleich Dorfplatz, wo Nachbarn zusammensitzen und Kinder spielen. Dieses private Leben im öffentlichen Raum kennen die Düsseldorfer sonst nur aus dem Urlaub“, heißt es dazu auf der Webseite.

Die Düsseldorfer Kiefernstraße hat eine bewegte Geschichte. Anfang des 19. Jahrhunderts mitten in einem Industriearbeiterviertel gelegen, wurde sie in den 80er Jahren zum Inbegriff der Hausbesetzerszene in NRW. Diese Zeit prägt die Straße und ihre Bewohner bis heute. 1981 kam es zu den ersten Hausbesetzungen auf der Straßenseite mit den ungeraden Hausnummern. „Angefangen hatte die ganze Sache Mitte der 70er Jahre, da wurden bereits die ersten Wohnungen entmietet“, erzählt Machinek, während er die Straße entlang geht. Die Eigentümer der Häuser hatten diese an die Stadt Düsseldorf verkauft, die die Gebäude abreißen und so Raum für Gewerbeflächen schaffen wollte. Bezahlbarer Wohnraum war zu dieser Zeit gerade in Düsseldorf knapp. Deshalb sorgte die „Aktion Wohnungsnot“ (AWN) durch Verhandlungen mit der Stadtverwaltung dafür, dass von einem Abriss Abstand genommen wurde.

Die Häuser blieben stehen, Mieter zogen wieder ein. 1981 jedoch kam es zum Streit zwischen der AWN und der Stadt, die nicht bereit war, der AWN weitere Wohnungen in der Kiefernstraße zur Verfügung zu stellen. Nach geplatzten Verhandlungen wurden von den 120 AWN-Wohnungen auf der Kiefernstraße 40 Wohnungen kurzerhand besetzt. Die Mieterschaft war und ist bis heute gemischt: Studenten, Familien, Intellektuelle, Punks, Arbeiter. Auf der geraden Straßenseite wohnten damals wie heute „normale“ Mieter. Machinek selbst zog 1984 in die Kiefernstraße. „Das Problem war damals, dass die von der Stadt erstmal nicht wussten, was sie mit uns machen sollten“, erzählt er und zündet sich eine Zigarette an. Er ist seit seinem Einzug eine Art Vorkämpfer, kennt die Mieter der halben Straße und macht sich seit gut 20 Jahren für sie stark.

Schließlich setzte sich in den 80er Jahren die „Düsseldorfer Linie“ durch. „Es wurde solange nicht geräumt, wie es keine gerichtlichen Räumungstitel gab“, erinnert sich Norbert Machinek. Die Besetzer konnten somit in den Häusern bleiben, bis deren Räumung gerichtlich durchgesetzt wurde. Dennoch gab es immer wieder Zusammenstöße zwischen den Bewohnern und der Polizei. 1986 kam es zur größten Razzia auf der Kiefernstraße. 800 Polizisten und dutzende Staatsanwälte bevölkerten die Straße, durchsuchten Wohnungen und Keller. Angeblich hatten sich zwei RAF-Mitglieder in den Häusern versteckt. „Da wurde einem klar, was der Begriff Polizeistaat bedeutet“, sagt Machinek.

Im Jahr 1987, nach weiteren Razzien, Demonstrationen, Barrikaden und Polizeieinsätzen, erfolgte die „soziale Befriedung“ der Kiefernstraße. Die Stadt Düsseldorf schloss als Eigentümerin der Häuser mit den Besetzern Mietverträge ab. 1,10 Euro pro Quadratmeter zahlen die Mieter auf der Seite mit den ungeraden Hausnummern, bis zu 4 Euro die auf der geraden Seite. Die Ex-Besetzer berappen somit auch heute deutlich weniger als die Menschen, die vorwiegend in Sozialwohnungen auf der geraden Straßenseite wohnen.

Im Vergleich zu den Häusern mit den höheren Hausnummern ist die Kiefernstraße 1, kurz „K 1“ genannt, gut in Schuss. An den weiter hinten gelegenen Häusern fällt der Putz ab, an den Fensterrahmen splittert das Holz, Feuchtigkeit dringt ins Gemäuer. Es scheint, als verbrächten viele Bewohner ihre Zeit lieber vor als in den Häusern. Einige haben es sich auf ausgebauten Autositzen bequem gemacht, andere sitzen gleich auf der Bordsteinkante. „Manche Häuser sind wirklich sehr sanierungsbedürftig“, sagt Norbert Machinek. Er deutet auf ein grau verputztes Haus auf der geraden Seite, gut hundert Meter von der „K 1“ entfernt. „Da haben die Bewohner mit Schimmel zu kämpfen, müssen im Wohnzimmer schlafen“, erzählt er.

Trotz der höheren Mietpreise sind die Sozialwohnungen, in denen vorwiegend Migranten wohnen, in einem schlechteren Zustand als die ehemals besetzten Wohnungen. Warum? „Ich denke, weil wir im Schadensfall stärkeren Druck auf den Vermieter ausüben“, sagt Machinek. Die Trennung der beiden Straßenseiten ist nicht mehr so stark wie zu aktiven Hausbesetzerzeiten. Die Mieter arbeiten zusammen, unterstützen sich gegenseitig in ihrem Kampf gegen die Bürokratie.

Auch die ehemaligen Hausbesetzer ärgern sich mit der städtischen Wohnungsbaugesellschaft (SWD) und dem Amt für Immobilienmanagement herum. Da die Stadt weiterhin Eigentümerin aller Wohnungen in der Kiefernstraße ist, die Verwaltung der Wohnungen jedoch der SWD obliegt, müssen die Bewohner mit beiden Stellen in Verhandlungen treten. Die SWD ist für akute Mängel und Mietfragen zuständig, das Amt für die Sanierung, die die Bewohner seit langem fordern.

Bereits im Jahr 2004 legten sie eine Mängelliste vor, bis heute gab es keine größeren Sanierungen an beiden Seiten der Straße. Schimmel, nasse Außenwände, defekte Türen und Kamine, Ungeziefer – die Liste ist lang. „Vor zwei Wochen haben wir ein Schreiben von der SWD bekommen, dass sie ein Planungsbüro beauftragt haben, das sich demnächst bei uns melden will“, erzählt Machinek und winkt mit verärgerter Geste ab. Im Jahr 2008 laufen die Besetzermietverträge aus. „Die Sanierung wird verschleppt“, sagt Machinek. „Am Ende will man uns mit einer Nullachtfuffzehn-Sanierung abspeisen – wenn überhaupt...“, so sein ernüchterndes Fazit.

Es ist ruhiger geworden auf der Kiefernstraße. Die Zeiten, in denen die Straße der Schreck des Düsseldorfer Establishments war, sind vorbei. Dennoch lebt eine Subkultur fort, die es in dieser Form nur noch selten gibt. Mieterversammlungen, Plena, Basisdemokratie – das Konzept sorgt für ein funktionierendes Zusammenleben. Rund 800 Menschen aus mehr als 40 Nationen wohnen heute in der Kiefernstraße. Ohne dass diese jemals zum „sozialen Brennpunkt“ geworden wäre. Über einer Tür hängt eine Pace-Fahne, direkt daneben eine von der WM übrig gebliebene Deutschlandfahne. Aus einem offenen Fenster dröhnt lauter HipHop, auf der gegenüber liegenden Straßenseite befindet sich Düsseldorfs einzig verbliebener Punkclub „AK 47“. Es sind diese kleinen Gegensätze, die das Straßenbild prägen.

„Die Stimmung ist gut“, sagt Norbert Machinek. Ans Aufgeben hat er noch nie gedacht. „Genauso wie alle hier hänge ich an meiner Straße“, sagt er, „Widerstände stacheln mich an.“ So geht es auch den anderen Straßenbewohnern. „Kiefern bleibt!“ – „Besetzt, bewohnt, belebt!“ – „Uns die Kiefern, euch die Kö“, ist auf den Plakaten und Bannern zu lesen, die an den Häusern und am Zaun des Spielplatzes hängen. Der liegt an der Straßenbiegung in der Mitte der Kiefernstraße. Die Bewohner des Hauses 23 hatten das Abrissgelände, auf dem bergeweise Bauschutt lag, mit Erde aufgefüllt und naturnahe Spielgeräte gebaut. Eine Feuerstelle, ein Sandkasten und eine Hängebrücke sorgten dafür, dass im Stadtteil wenigstens eine kleine Grünfläche zur Verfügung stand. „Für die Begrünung bekamen die Bewohner im Jahre 2004 sogar den Umweltpreis der Stadt“, sagt Machinek ein bisschen stolz. Heute ist der Spielplatz eingezäunt, es gab Ärger mit den Eigentümern. Jemand hat ein Element des Zaunes abgebaut, der Platz ist wieder zugänglich und wird weiter genutzt. „Alles, was nicht verboten ist, ist erlaubt“, sagt Norbert Machinek und geht weiter. Vorbei am „Red House“, in dem die Straßenversammlungen stattfinden, und an neuen Wohnungen, die am Ende der Kiefernstraße entstehen und sich nicht recht in das Gesamtbild der Hausbesetzerstraße einfügen wollen.

„Über uns hängt das Damoklesschwert“, sagt Dörte Stein, die Machinek auf dem am Ende der Straße gelegenen Bauwagenplatz trifft. „Das, was wir hier leben, wird begrüßt. Doch wenn es um konkrete Handlungsbereitschaft geht, wird‘s schwierig.“ Norbert Machinek und Dörte Stein verwenden viele Stunden ihrer Freizeit darauf, für ihre Straße zu kämpfen. Irgendwann, so hofft Stein, wird die Stadt vielleicht erkennen, dass „wir ein Geschenk für Düsseldorf sind“. Machinek nickt. „Ein Juwel“, sagt er.