Schämt euch!

In die deutsche Berichterstattung über den Krieg im Nahen Osten hat sich die seltsame Meinung eingeschlichen, Israel müsse sich für seine „unverhältnismäßige“ Aggression schämen – ein Unsinn

VON JOSEF REICH

Dass die Israelis sich schämen sollten, meinen auch die meisten deutschen Nachrichtenmoderatoren und Journalisten. Dass die islamofaschistische Hisbollah den massenhaften Tod ihrer Landsleute bewusst als Strategiemittel einsetzt, findet dabei nur selten Erwähnung.

Ist eine solche, irgendwie einseitige Schuldzuweisung an den israelischen Aggressor bereits als latenter Antisemitismus zu charakterisieren? Als Weiterentwicklung des mittelalterlichen Glaubens, die Juden hätten den Sohn Gottes gekreuzigt? Durch Renaissance, Aufklärung, Romantik und Moderne hinweg mündete die Essenz dieser christlichen Grundeinstellung in die Nazi-Katastrophe und trieb die Juden dazu, sich gewaltsam ihre biblische Heimat wieder anzueignen.

Judenhass heute äußert sich darin, dass sich nicht nur die arabischen, sondern unter anderem auch die west- und mitteleuropäischen Massen am allerliebsten und am allerschnellsten dann über internationales Unrecht empören, wenn im Nahen Osten seitens Israel oder seines US-Schutzengels Böses geschieht. Geblieben ist die Lust, sich am hebräischen Sündenbock abzureagieren, sich so von den eigenen Sünden reinzuwaschen.

Denn dass beispielsweise wir Deutschen uns eigentlich viel, viel mehr schämen müssen als die Israelis, und zwar nicht so sehr wegen unserer misslichen Vergangenheit, sondern wegen der Missetaten in der allerjüngsten Gegenwart, ist nur wenigen Medienmachern bewusst.

Unterlassene Hilfeleistung wird nach bundesdeutschem Gesetz als kriminelles Vergehen geahndet. Wenn ich tatenlos zusehe, wie zum Beispiel ein minderjähriges Mädchen vergewaltigt wird, mache ich mich strafbar und muss mit einer saftigen Gefängnisstrafe rechnen.

Korrekt, beim Völkermord in Ruanda waren primär die Franzosen und Belgier die Versager. Aber besteht für uns nicht die moralische Pflicht, am allerlautesten „Halt!“ zu schreien, wir, eine der größten, verantwortlichsten und wirtschaftlich mächtigsten Demokratien, und halt behaftet mit der Bürde unserer Weltmeisterschaft im industriellen Völkermord?

Auf 187 Millionen US-Dollar belief sich der UNO-Hilfsetat während des furchtbaren Kongokriegs, der um die Jahrtausendwende herum schätzungsweise an die 4 Millionen Opfer forderte. Fast gleichzeitig wendete die UNO ab 2000 für die von ihrer Intifada bestraften Palästinenser 395 Millionen US-Dollar auf, ein Konflikt also, der wesentlich weniger Tote zur Folge hatte. Hätten die Ströbeles oder Blüms in unserem Land nicht vor allem gegen solche skandalösen Missproportionen ihre Stimme erheben sollen, statt mit antiisraelischen Äußerungen zu glänzen?

Die Verbraucherinfo, dass ohne das ungeheuer leitfähige Coltan der ganze Mobiltelefoniespaß unmöglich wäre, dieses Edelmetall insbesondere aus dem Kongo kommt und der Handel damit den dortigen Bürgerkrieg zum Teil finanzierte, gelangte nur an die allerwenigsten Handy-Benutzer. Weder bedrängte Kanzler Gerhard Schröder seinen Wladimir-Putin-Freund damit, die tschetschenische Hauptstadt Grosny nicht in Schutt und Asche zu schießen, noch beschwerte er sich über die 15.000 getöteten Tschetschenen und die Menschenrechtsvergehen der russischen Armee. Zurück in die Gegenwart des seit 2003 andauernden Genozids in der westsudanesischen Provinz Darfur, wo brandschatzende Reitermilizen, die so genannten Janjaweed, unentwegt die Dörfer der Fur und anderer Stämme überfallen und deren Bewohner nach Belieben vergewaltigen, ermorden und vertreiben.

Dahinter steht das fundamentalistische Regime in Sudans Hauptstadt Khartoum, welches die Janjaweed mit chinesischen Handfeuerwaffen ausrüstet und welches aufgrund seines Erdölreichtums vom rohstoffbedürftigen China großzügigst unterstützt wird. Eben dieses noch nicht sonderlich demokratische, die Menschenrechte eher ignorierende China ist wiederum nicht nur uns, sondern wir auch ihm, ein geradezu unersetzlicher Handelspartner.

Nicht nur gegenüber den Chinesen, sondern auch überhaupt blieben wir Deutschen in der Darfur-Angelegenheit bisher mucksmäuschenstill. Analog bedeutet dies: Wenn ich mit jemanden Geschäfte mache, der einen Mörder finanziert, bin ich dann noch koscher? Vor allem wenn ich meinen Geschäftspartner nicht mit dem geringsten Pieps darauf aufmerksam gemacht habe, anders zu verfahren?

Weil das von Raketen und Katjuschas angegriffene Israel das Überlebensrecht der eigenen Bürger über das der Menschen im Libanon stellt, wurde bei seinen Bombardierungen bisher einige hundert Menschen getötet, darunter im Übrigen nicht zu wenige Hisbollah-Kämpfer. Unser Wegsehen, unser Stillschweigen, unser Stillhalten, unsere Tatenlosigkeit angesichts des Genozid in Darfur trug bis dato mit dazu bei, dass an die 300.000 Menschen starben und etwa zwei Millionen in Flüchtlingslagern leben müssen.

Damit es sich also die Mehrheit der Meinungsmacher in der Bundesrepublik hinter ihre Ohren schreibt: Nicht die Israelis, nein, wir Deutsche müssen uns schämen.