Am Maschendrahtzaun

Post aus Nahost (6): Ron Kehrman entdeckt, was er mit Hassan teilt – dem Mann, der ihn bombardieren lässt

„Salam“, Herr Hassan Nasrallah,oder „Schalom“, wie wir auf Hebräisch sagen. Ich darf dich doch mit deinem Vornamen ansprechen, oder? Wir grüßen einander in verschiedenen Sprachen, aber mit demselben Wunsch nach Frieden. Wir sind keine 70 Kilometer voneinander entfernt geboren, du im Süden des Libanons und ich in Haifa. Wir sind sogar ungefähr gleich alt. Wir haben beide im Ausland studiert – ich Business, du den Koran. Meine Tochter starb als Terroropfer, dein Sohn als „Freiheitskämpfer“. Wir müssen uns beide irgendwie beschäftigen, wollen wir nicht in Leere und endlosem Kummer versinken.

Welche anderen Gemeinsamkeiten fallen mir ein? In diesem Krieg, den du als tiefgläubiger Mensch vom Zaun gebrochen hast, suchst du Schutz in einem menschengemachten Bunker tief unter der Erde. Ich bin mit Sicherheit der weniger religiöse von uns beiden und werde nur von Gott beschützt. Ich hoffe, dass mich keine deiner iranischen Raketen trifft.

Genau wie du lebe ich in einer Demokratie, bei den letzten Wahlen hast du es sogar bis in die libanesische Regierung geschafft, wozu ich dir herzlich gratuliere.

Als Nachbarn hatten wir vor bald sechs Jahren mal Probleme mit unserem Grenzzaun; der Richter (die UNO) hat entschieden, dass ich (Israel) mich auf meinen Teil des Grundstücks zurückziehen soll. Ich gehorchte, um sinnlosen Streit zu vermeiden. Ich habe mich echt bemüht, den Lärm und all die Fahnen zu ignorieren, die du an unserem gemeinsamen Zaun aufgepflanzt hast. Es ist nicht so, dass ich das nicht gehört oder gesehen hätte. Ich dachte nur, wenn du deine internen Probleme erst einmal gelöst hast und dich sicherer fühlst, wirst du schon ein guter Nachbar werden; wie dein Vorgänger, der vor 30 Jahren neben mir wohnte.

Aber ich begreife bis heute nicht, was vor gerade mal zwanzig Tagen in dich gefahren ist, als du über den Zaun gesprungen bist und meine Kinder angegriffen, getötet oder entführt hast! Das hat mich wirklich aufgebracht! Wahrscheinlich weißt du gar nicht, wie sehr du mich damit enttäuscht hast! Jedenfalls konnte ich da nicht länger so untätig zu Hause hocken, wie du es früher von mir gewohnt warst …

Hoffentlich habe ich mich diesmal klarer ausgedrückt. Wenn wir uns beide beruhigt haben, wenn du auf deiner Seite des Zaunes bleibst und ich auf meiner, dann können wir wieder Nachbarn sein.

Vielleicht sollten unsere Freunde tatsächlich ein Weilchen bei uns bleiben und darauf achten, dass es keine schmutzigen Tricks mehr gibt. Und sei’s auch nur unseren Kinder zuliebe, Hassan, so hoffe ich doch, dass wir eines Tages wieder in Harmonie leben werden – wie mit dem alten Nachbarn, den ich vor 30 Jahren hatte.

Ron Kehrman (Haifa) schreibt im Wechsel mit Iman Humaidan Junis (Beirut). Aus dem Englischen von Arno Frank