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: Erst hat man Glück, und manchmal kommt auch noch Pech dazu: die Bilderbücher des Sommers

Alles im Leben hat zwei Seiten. Deshalb muss der Mensch sich ständig entscheiden: Geht er links- oder rechtsherum? Isst er Eis oder Schokolade? Wird er Tischler oder Weltreisender? Und nie weiß er: Was wäre passiert, wenn er rechts- statt linksherum gegangen wäre? Es ist schon schrecklich, was man alles verpassen kann. Andererseits: Manchmal ist es purem Glück zu verdanken, dass man einer Katastrophe entrinnt. Das Prinzip Zufall eben.

Das Schöne an Bilderbüchern ist, dass sie solche komplexen, zeitnahen Themen anschaulich, komprimiert und oft auch noch witzig darstellen. Zumindest, wenn sie gut sind. „So ein Glück“ ist ein gutes Buch. Es erzählt Geschichten über das, was nicht passiert ist. Und weil alles im Leben zwei Seiten hat, kann man auch dieses Buch von vorne wie von hinten lesen. „So ein Glück“ heißt es auf der einen Seite, „So ein Pech“ auf der anderen. Es erzählt von Amanda, die sich entschließt, im Park zu spazieren, und so der Begegnung mit „einem knurrenden, sabbernden Hund“ entgeht. Leider geht sie an der Parkbank aber einfach vorbei – hätte sie sich draufgesetzt, hätte sie dem König zuwinken können.

Mit aktuellen Zeiterscheinungen spielt auch das Bilderbuch „Titus & Cräcker“. Es erzählt von einem Frosch und einer Fliege, die nur deshalb Freunde werden können, weil die Fliege dem Frosch die Vorzüge zeitgemäßer vegetarischer Ernährung plausibel machen kann. Dass Tiere sich gegenseitig fressen, gilt hier als Relikt aus fernen, unzivilisierten Zeiten. Und so beginnt eine großartige Freundschaft mit vielen Abenteuern, wobei die Bilder zu den witzigsten dieses Büchersommers zählen. Der Illustrator Björn Bippus Brender arbeitet bei Cräcker, dem Draufgängerfrosch, mit knalligen Farben und holt aus seiner Figur an Komik heraus, was er kann. Für die zarte Fliege Titus hingegen hat er bedeckte, graubraune Töne genommen, die ihrem zurückhaltenden, melancholischen Gemüt entsprechen. Cräcker und Titus, das sind zwei Gegensätze, die voneinander lernen, und erst die Persönlichkeitsentwicklung, die sie einander ermöglichen, bildet die solide Grundlage ihrer Freundschaft. So ist „Titus & Cräcker“ nicht nur ein lustiges, sondern auch ein kluges Buch.

Wenn es darum geht, Lebensklugheit mit Witz zu kombinieren, ist Ringelnatz unschlagbar, und die vielen Ringelnatz-Bücher der letzten Jahre kann man schon gar nicht mehr zählen. Ähnlich erfolgreich wurde der Dichter Christian Morgenstern als Kinderbuchautor entdeckt und vermarktet. Ein Titel aus dieser Flut ist allerdings doch noch erwähnenswert. Er heißt „Morgennatz und Ringelstern“, und der Titel verrät schon, worum es geht: Heinz Janisch hat die Gedichte von Ringelnatz und Morgenstern in einen Lyrikhäcksler geschüttet, und herausgekommen sind keinesfalls Späne, sondern sehr heitere, neue Kombinationen. Das berühmte Gedicht von den zwei Ameisen, die nach Australien reisen wollen, hat da, zum Beispiel, dieses neue Ende bekommen: „Bei Altona auf der Chaussee, / da taten ihnen die Beine weh, / und da verzichteten sie weise / denn auf den letzten Rest der Reise. / So will man oft und kann doch nicht / und leistet dann recht gern Verzicht.“ Schön, wie Ringelnatz und Morgenstern einander die Bälle zuspielen. Wie Brender setzt auch die Illustratorin Christine Sormann auf kräftige Farben und einen mutigen, karikierenden Strich. Ganz selbstverständlich stehen in den Bildern wie in den Texten Ironie und Eindeutigkeit nebeneinander. Und so ist das Seltene gelungen: ein Bilderbuch für kleine Kinder, das gleichermaßen für Erwachsene ist. ANGELIKA OHLAND

Thomas Halling, Eva Eriksson: „So ein Glück“. Deutsch von Svenja Drewes. Oetinger Verlag, Hamburg, 9,90 Euro Ulrich Zaum, Björn Bippus Brender: „Titus & Cräcker“. Gugis Verlag, Lahr, 32 Seiten, 14,80 Euro Heinz Janisch (Herausgeber), Christine Sormann: „Morgennatz und Ringelstern“. Verlag Annette Betz, Wien, 56 Seiten, 16,95 Euro