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Der Wille zum Buch

Ferienzeit – Zeit zum Lesen, endlich! Und dann das: Das Buch, auf das man sich so gefreut hat, ist … großer Mist! Fünf Lektürewarnungen

von ENTNERVTEN URLAUBERN

Oberstufenschüler, Obacht! Was man euch im Deutschunterricht seit Generationen vorsetzt mit schmeckleckerischem Augenblitzen und den beschwörenden Worten, jetzt komme man aber wirklich zu den Großklassikern, das entpuppt sich, im Urlaub bei ursprünglich bester Laune gelesen, als nervenzertanzende Geduldsprobe.

Ich fahre selten aus der Haut. Bücher, die mir auf dutzenden Seiten nichts sagen, die mich von der Seite anquasseln und nie auf den Punkt kommen, die lege ich einfach weg. Aber dieses hier, um das ich seltsamerweise immer herumgekommen war, ohne zu ahnen, welches Glück das war, dieses Buch warf ich an Dänemarks Küsten mindestens fünfmal in hohem Bogen weit fort von mir, um es jedes Mal („Immerhin, es ist Kleist!“ murmelnd) wieder zurückzuholen. Manchmal schaffte ich es, drei ganze Absätze zu lesen – eine nicht geringe Leistung bei einem Werk von hundert Seiten, aber mit nur dreißig Absätzen; ich habe sie gezählt.

Jeder Satz leidet an Bandwurm: „Nicht nur, daß zufolge seiner Bemerkung er, so wie die Sachen standen, überhaupt noch zur Entscheidung seines, im besten Fortgang begriffenen Rechtsstreits, keiner Hülfe von Seiten eines Dritten bedürfte: aus einigen Briefschaften, die er bei sich trug, und die er dem Prinzen vorzeigte, ging sogar eine Unwahrscheinlichkeit ganz eigner Art hervor, daß das Herz des Nagelschmidts gestimmt sein sollte, ihm dergleichen Hülfe zu leisten, indem er den Kerl, wegen auf dem platten Lande verübter Notzucht und anderer Schelmereien, kurz vor Auflösung des Haufens in Lützen hatte hängen lassen wollen …“ Fasel, fasel, fasel, Seite um Seite um Seite geht das so. Will Kleist Martin Luther nachahmen, der in dem Buch einen Gastauftritt hat? Dabei könnte die Geschichte vom Pferdehändler K. richtig spannend sein, packend wie „Die Marquise von O.“ oder „Das Erdbeben in Chili“, herrliche Kleist-Novellen. In „Michael Kohlhaas“ passiert eine Menge, es gibt schnelle, dramatische Wendungen, aber alles in der Schraubzwinge bleierner Sätze, die einem befehlen: Konzentrier dich gefälligst, oder ich sprech kein Wort mehr mit dir. Will man mit solch einer Begleitung in den Urlaub fahren? No Sir! REINHARD KRAUSE

Jede Regierung bekommt 100 Tage Zeit, um zu beweisen, dass sie gute Arbeit leisten kann, ohne schon in den Anfangsschritten von Kritikern zerrissen zu werden. Das ist nur fair. Manche brauchen eben eine Anlaufzeit, um in Schwung zu kommen. Aus diesem Grund gebe ich auch jedem Buch 100 Seiten lang die Chance, zu beweisen, dass es ein gutes Buch ist. 100 Seiten lassen sich immer irgendwie schaffen. Normalerweise.

Diese faire Chance hatten auch Salman Rushdies „Satanische Verse“. Die sollte man gelesen haben, immerhin hat der Autor für dieses Werk sein Leben riskiert. Im Iran braucht er sich seit der Veröffentlichung nie wieder blicken zu lassen, stattdessen gilt er jetzt als Experte in Fragen der persönlichen Sicherheit. Das Cover sieht hübsch aus, der Titel klingt geheimnisvoll; spätestens seit es 1989 von islamischen Geistlichen verteufelt wurde, gehört das Buch zur Allgemeinbildung, und: Man will doch wissen, wieso Chomeini den Autor auf die Todesliste setzte.

Ich weiß es bis heute nicht. Trotz vieler Anläufe kam ich nie über die Anfangsszene hinweg, die ich inzwischen fast auswendig kann. Der erste Leseversuch liegt fünf Jahre zurück, es war im Urlaub an der Nordsee: Seitdem fallen die indischstämmigen Briten Gibril Farishta und Saladin Chamcha aus einem Passagierflugzeug durch die Nacht und bepöbeln sich im Fallen gegenseitig – immer und immer wieder. Von Allah, Satan oder Mohammed keine Spur. Vielleicht würde es sich lohnen, zunächst Persisch zu lernen und dem Buch dann eine neue Chance zu geben. Möglicherweise ist die Farsi-Übersetzung viel spannender. Ob Chomeini es ganz gelesen hat? KERSTIN SPECKNER

Ohne Rajasthan, Gujarat und Maharashtra hätte ich es nicht geschafft, ehrlich. Endlos dehnen sich die indischen Bundesstaaten auf der Strecke zwischen Agra und Bombay. 48 Stunden hingen Sita und ich bei sengender Hitze auf den hellblauen Plastiksitzen des Radjani Express, während unsere Körper die Konsistenz von Dampfnudeln annahmen. Die Luft war schwer von beißenden und süßlichen Gerüchen, und auf dem Gang schob sich ein Jahrmarkt von Bettlern und Verkäufern vorbei, als stünden wir mitten auf dem Connaught Place. Mein einziger Ausweg: Russland.

Die Brüder Karamasoff sind die längste Zeit meine wichtigsten Reisebegleiter gewesen. Zusammen mit einem Bikini und irgendeinem bescheuerten Kleiderfehlkauf, den ich in diesem Urlaub endlich mal anziehen wollte, landete das edel leinengebundene Buch immer mit den ersten Gepäckstücken in meinem Koffer. Eine ganze Zugfahrt nach Rom lag es treu neben mir auf dem Sitz, während ich lieber zehnmal dieselbe Kassette hörte, es verbrachte einen Sommer auf einer dänischen Insel und büßte am Strand von Antibes fast das gesamte Gold von Dostojewskis Namenszug auf dem Cover ein.

Man sagt, der wichtigste Satz eines Buches sei der erste. Bei Dostojewski ist es das erste Drittel des ersten Satzes: „Alexéi Fjódorowitsch Karamásoff war der dritte Sohn Fjódor Páwlowitsch Karamásoffs …“ Allein diese Namen musste ich dreimal lesen. Dann kam es noch besser: „… eines Gutsbesitzers in unserem Gouvernement, der seinerzeit, d. h. vor genau dreizehn Jahren, durch sein tragisches Ende, von dem ich später berichten werde, so viel von sich reden machte (aber auch heute noch erinnert man sich seiner bei uns).“

Fast ein Jahrzehnt lang erschien mir Dostojewskis Anhäufen von Einschüben, Gedankensprüngen und Familienmitgliedern mit zahllosen Kosenamen undurchdringlich und näheres Wissen über die Kälte Russlands und seine larmoyanten Tanten wenig erstrebenswert. Nur vom Ehrgeiz getrieben, endlich dieses Buch abhaken zu können, las ich wieder und wieder die ersten Seiten. Doch in Indien – im festen Willen, die Intensität, mit der das Land auf den Reisenden einprasselt, einfach zu unterbrechen –, gelang mir der entscheidende Durchbruch zum dritten Kapitel. „Die Brüder Karamasoff“ fordert den Leser mit Haut und Haaren, man muss ganz in seinem Kosmos versinken, sonst begreift man den Roman nicht. Und genau das wollte ich. Leider kann ich gar nicht mehr sagen, ob mir das Buch gefallen hat. Ich erinnere mich nur noch, dass ich es endlich besiegt hatte. JUDITH LUIG

Wer mit dem Motorrad in Urlaub fährt, möglicherweise monatelang, der sollte bei der Auswahl seiner Lektüre äußerste Sorgfalt walten lassen. Mitfahren dürfen nur Bücher, die durch Eselsohren noch attraktiver werden, auch nach Wolkenbrüchen nicht aus dem Leim gehen und möglichst wenig Gewicht auf die Waage bringen. Aber bitte nur auf die Waage! Inhaltliche Leichtigkeit geht mir schnell auf den Zeiger.

Meiner Meinung nach stiehlt die Belletristik ihren gutmütigen Lesern nicht weniger Zeit, als es die dafür berüchtigten Computerspiele tun, nur sieht sie dabei irgendwie schlauer aus und verbraucht keinen Strom. Warum sollte ich mich wochenlang durch einen Krimi quälen? Um am Ende zu erfahren, wer der Mörder war? Der Mörder interessiert mich nicht, er wird schon seine Gründe gehabt haben. Da wühle ich mich doch lieber wochenlang durch „Die Welt als Wille und Vorstellung“ und erfahre am Ende etwas über die voluntaristische Metaphysik des Lebens. Aber das ist nur meine Meinung und wird, weil unbescheiden, nicht von jedem geteilt: „Herrgott, versuch’s doch mal mit einem guten Krimi!“, entfuhr es denn auch meiner Begleitung, als sie den „Untergang des Abendlandes“ in meinem Tankrucksack entdeckte.

Und ich hab’s versucht. Mit einem „spannenden Thriller“ von Henning Mankell und einem „packenden Krimi“ von Donna Leon zog ich mich ins Badezimmer zurück und begann, noch während das heiße Wasser in die Wanne lief, mit der Lektüre. Erst neugierig, dann gleichmütig und später sogar extrem genervt blätterte ich mich durch die ersten Seiten. Kommissar kocht. Hm, lecker. Leiche wird entdeckt. Verstümmelt, versteht sich. Tatwaffe? Erste Indizien! Wohin führt die Spur? Kommissar runzelt die Stirn, braucht Beweise, blablabla, kurzum: Das Wasser war noch nicht lauwarm, da war ich schon raus – aus der Geschichte und aus der Wanne. Um mir was Besseres zum Lesen zu holen. Apropos Geschichte: Mit den abgefahrenen „Annalen“ des Tacitus hatte ich dann doch noch viel Spaß, im Kerzenlicht, vor meinem Zelt, am Atlantik.

ARNO FRANK

Beim Umzug neulich rieselten Sandkörner aus den Seiten dieses Buchs. Die müssen beim Strandurlaub, angetreten im Geiste Alexis Zorbas’, in Griechenland hineingeraten sein. Als ich die Wucht von einer Lektüre – alles in allem 2.500 Seiten – weiter ausschütteln wollte, fiel mir auch eine Stockholmer U-Bahn-Fahrkarte entgegen. Das muss bei der Recherche gewesen sein, damals vor zwanzig Jahren, auf der Suche nach dem bolschewistischen Aufpasser, der es sich vollständig unproletarisch Tag für Tag in der großbürgerlichen Badeanlage von Stureplan gutgehen ließ. Zum Schluss segelte der papierne Rest einer Würfelzuckerverpackung aus Korsika zu Boden.

Dieses Buch hat einen Ehrenplatz. Es wird nie bei eBay landen, niemals verschenkt, allenfalls eines Tages mitverbrannt werden. Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“, ein Opus, das die undogmatische Linke seit Mitte der Siebziger als Vademekum las, eine Literatur über die Lust und die Last der bürgerlichen Bildung proletarischer Jungs mitten in braunen Zeiten in Berlin. Stalinisten hassten das Buch, Kritikern wie F. J. Raddatz war es nicht sozialistisch genug, Kulturlinke liebten es aber.

Ein fast absatzloser Roman. Mitgenommen erstmals in der Suhrkamp-Sonderausgabe 1984 nach Griechenland. Sommer, Sonne, Souflaki – alles verboten. Eine Aufgabe, ein Sinn musste mitreisen! Und am Ende waren es doch nur Krimis, die zu Ende geschmökert wurden, Weiss’ Roman hingegen war ein Resignationsding: zu viel Melancholie und Scheitern.

Im nächsten Jahr habe ich es wieder mitgeschleppt, nach Korsika, und das als Tramper! 1988 schließlich, im Wohnwagen durch Norwegen, nutzte ich es nur noch, um den Klapptisch wackelfest zu machen. Dann die Wende: 1990 in Stockholm musste es gelesen werden, es war, gemessen an den mitgenommenen Alternativen, die reine Unterhaltung. Die damals nach den Ferien ungelesen wieder ins Regal sortierten Bücher waren: ein Grass, ein Walser und leichte Frauenkost von Kerstin Ekman. Weiss kam mir in der blasierten Hauptstadt Skandinaviens gerade recht. Ich musste es nur als Kriminalroman lesen: Als Studie politischer Verbrechen wider das Gute & Schöne. Überraschend, wie nach dem Auftakt mit den Pergamon-Erörterungen die Schose ins Rasen kommt – samt in Mikrosekundengenauigkeit berichteter Hinrichtung kommunistischer Kader durch die Nazis in Berlin-Plötzensee. Ein Bildungselement!

Ein Triumph: ein Buch geschafft zu haben, das damals alle kauften und niemand so recht kennt, es sei denn, es ging um Seminarscheine. Jüngst aus dem Urlaub mitgebracht, ungenutzt: „Der Koran“, deutschsprachige Studienausgabe. Der Sommer war zu schön für diese Strenge. JAN FEDDERSEN

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