Auf Hundejagd

In Kiel arbeiten Sinti-Mütter als Mediatorinnen an den Schulen ihrer Kinder. Die sollen das Gerüst für eine neue Generation werden

VON FRIEDERIKE GRÄFF

Bei der Feierstunde im Lübecker Rathaus haben sie natürlich nicht über die Sache mit dem Hund gesprochen. Stattdessen sagte der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Harry Peter Carstensen, dass die Bildungschancen der Sinti- und Romakinder gewachsen seien und dass das Projekt andere Sinti ermutige, aus ihrer Isolation herauszukommen. Carstensen erzählte ein bisschen etwas von den Anfängen, als die Sinti-Mütter plötzlich auf dem Schulhof standen, und dankte Ute und Günter Grass dafür, dass sie einen Preis zugunsten des Roma-und-Sinti-Volkes gestiftet haben.

Später haben die Mediatorinnen die Sache mit dem Hund erklärt – in dem kleinen Raum der Kieler Matthias-Claudius-Förderschule, den sie für ihre Arbeit bekommen haben. Hierher kommen die Sinti-Kinder, um Schulaufgaben zu machen, sie kommen, um sich über Lehrer zu beklagen, und sie kommen, weil sie hier ihre Sprache sprechen können, Romanes. Das klingt unspektakulär, jedenfalls nicht nach etwas, was einen Ministerpräsidenten auf den Plan rufen würde.

Der Ministerpräsident hat in Lübeck nicht davon gesprochen, dass die Sinti-Eltern früher in ihrer Sorge um die Kinder manchmal auf die Lehrerinnen einschlugen. Dass die Kinder kaum in der Schule auftauchten, obwohl es eine Abmachung gegeben hatte: Nachdem die Stadt den Sinti einen neuen Platz zur Verfügung gestellt hatte, sollten die Kinder die nahegelegene Matthias-Claudius-Schule besuchen. Aber die Eltern schickten ihre Kinder kaum zum Unterricht. Sie sahen nicht, wozu es ihnen nützen sollte. Und sie hatten meist keine guten Erinnerungen an ihre eigene Schulzeit.

„Mit mir wollte keiner spielen“, sagt Regina Kreuzer, eine der ersten Mediatorinnen. Sie selbst hat die Sonderschule besucht, aber für ihre Kinder wünschte sie sich etwas Besseres. Als ihre Zwillingssöhne Schwierigkeiten in der Grundschule hatten, wollte sie sie die Klasse wiederholen lassen. „Sie machen Ihre Kinder kaputt“, sagten ihr die Lehrer. Also hat sie sie auf die Sonderschule geschickt. Als ihre Töchter schulpflichtig wurden, dachte sie: „Nicht wieder dieser Weg.“ Sie ging mit ihrer Schwester zur Direktorin der Claudius-Schule und fragte, ob sie sich auf den Schulhof stellen dürften, um bei Konflikten zur Stelle zu sein. Sie durften.

Vom Schulhof fanden sie den Weg in die Klassenzimmer. Sie setzten sich auf die Kinderstühle, hörten zu, und wenn eines der Kinder Hilfe brauchte, gingen sie zu ihm. „Auch zu den Nicht-Sinti-Kindern“, sagt Regina Kreuzer. All das klingt mühelos und naheliegend, aber es war weder das eine noch das andere.

Wulf Steuer, der das Mediatorinnenprojekt in seinen Anfängen koordinierte, wird ein bisschen deutlicher: „Die Lehrer waren sehr, sehr reserviert“, sagt er. „Da kamen zwei ehemalige Sonderschülerinnen, die eine ohne, die andere mit geschenktem Schulabschluss.“ Die Lehrer und Lehrerinnen glaubten nicht alle, dass die Sinti-Mütter besser als sie wüssten, wie ihre Kinder in der Schule erfolgreich sein könnten. Und einige hatten schlechte Erfahrungen mit Sinti-Eltern gemacht. Die Lehrerinnen wussten nicht, warum Mütter und Väter auf sie einschrien. Es hatte ihnen niemand erklärt, dass die Kinder es als Tätlichkeit empfanden, wenn man sie anfasste oder die Stimme hob.

„Es ist eine andere Kultur“, sagt die Mediatorin Wanda Kreutz. „So wie es in Afrika auch anders ist.“ Wanda Kreutz ist nicht so vorsichtig wie Regina Kreuzer, sie nennt die Dinge gern beim Namen, und oft ist es ein kämpferischer. „Eigentlich wollte ich Kinderkrankenschwester werden“, sagt sie. Aber bei den Sinti sind medizinische Berufe verpönt, der gesamte medizinische Bereich ist tabu. Auch das haben die Lehrer nicht gewusst. Sie haben nicht verstanden, warum die Insel, die ein Sozialpädagoge an einer Nachbarschule angelegt hat, plötzlich für die Sinti-Kinder unbetretbar war: weil der Sozialpädagoge früher als Geburtshelfer gearbeitet hat. Und wenn die Lehrer davon erzählen, klingt noch immer ein Stück Unglaube mit, als sei es angebracht, sich von Vorstellungen, die so unpraktisch sind, frühzeitig zu trennen.

Wanda Kreutz ist nicht Kinderkrankenschwester geworden. „Tu etwas für deine Leute“, sagte sie sich, machte als Erste aus ihrer Familie Haupt- und Realschulabschluss und wurde nach ihrer Ausbildung als Sozialassistentin an der Claudius-Schule angestellt. „Ich habe mich zu Beginn nicht ins Lehrerzimmer getraut“, sagt sie. Das legte sich. Die Mediatorinnen holten den Hauptschulabschluss nach, sie kamen regelmäßig in den Unterricht, sie zogen vom Fahrradkeller in einen neuen Raum um. Wulf Steuer erzählt, dass anfangs die anderen Sinti-Familien die Mediatorinnen immer schon in deren Wohnzimmer erwarteten, wenn sie mit dem Lohn nach Hause kamen. Aber mehr kann er dazu nicht sagen. Und später sagt er, dass er eigentlich gar nichts Genaueres darüber wisse.

Im Laufe der Zeit gelangten die Dinge in ein ruhigeres Fahrwasser. Vielleicht sind deshalb jetzt die Untiefen deutlicher zu sehen. „Uns schreien die Sinti schon an“, sagt Ute Weidt in dem kleinen Mediatorinnenraum. Die gegenwärtige Koordinatorin des Projekts ist eine kleine, lebhafte Frau, und sie sagt es mit einer gewissen Heiterkeit. „Wanda, hör mal weg“, sagt sie. „In ihren Augen sind wir Untermenschen.“ „Das hast du gut formuliert“, antwortet Wanda Kreutz. „Das hat mit der Geschichte zu tun.“ Robert Ritter und Eva Justin, die führenden Rassenforscher im NS-Deutschland, kennen eigentlich nur Historiker. Und nahezu alle Sinti, weil Ritter und Justin diejenigen waren, die die – angeblich – wissenschaftliche Grundlage für die Einlieferung der Sinti und Roma ins KZ lieferten. In Streitigkeiten haben einige der Mediatorinnen Ute Weidt und Wulf Steuer „Nazis“ genannt.

Wulf Steuer war immer ein gewissenhafter Lehrer. Und ein schwieriger Mensch, das sagt er selbst. Seine Vorgesetzten haben ihn zehn Jahre vor der Pensionierung zum Beauftragten für die Sinti-Kinder gemacht, in der Vorstellung, so sagt er, ihn damit unschädlich zu machen. Jahrzehnte vorher hat er schon einmal Sinti-Kinder an dieser Schule unterrichtet. Kinder, in deren Familien es keine Bücher gab. Die nie mit Mäppchen und Büchern in der Schule erschienen, weil es bei ihnen selbstverständlich war, dass alles auch mit den kleineren Geschwistern geteilt wurde. Die zu glauben schienen, dass sie „wie durch ein Wunder“ plötzlich lesen und schreiben könnten. Wulf Steuer hatte kein pädagogisches Konzept für diese Kinder. „Ich finde, dass alle Kinder die gleichen Rechte und Pflichten haben“, sagte er damals, und das sagt er auch heute noch. Er denkt das in gewisser Weise auch über ihre Eltern. Er würde nie, wie seine Nachfolgerin es tut, morgens mit dem Auto herumfahren, um die Sinti-Kinder abzuholen, die von ihren Eltern nicht rechtzeitig geweckt werden. „Unser größter Fehler ist es gewesen, dass wir versucht haben, für die Sinti zu arbeiten. Statt mit ihnen.“

Vielleicht hat er es als zweite Chance empfunden, als Regina Kreuzer und ihre Schwester auf dem Schulhof erschienen. Er hat mit ihnen das Kollegium überzeugt, er hat sie mit zum Ortsbeirat genommen, um dort für ihre Sache zu streiten. Es ist nicht üblich, dass Sinti-Frauen allein mit einem Nichtsinti unterwegs sind, aber man hat sie ihm anvertraut, so hat er es empfunden. Er hat für eine von ihnen den Führerschein bezahlt, und er hat die Familien zu seinem Geburtstag eingeladen. Mit dem Landesverband der Sinit hat er sich dagegen überworfen. Man hört dort, dass er ein patriarchalisches Arbeitsverständnis habe. Er selbst erzählt eine Geschichte, die mehr als zwanzig Jahre zurückliegt. Damals hat ihn der Landesverband gebeten, einen Vortrag bei einer Veranstaltung zu halten. „Die Weißen“, so habe er damals angefangen und sei sofort ausgepfiffen worden. Mit den „Weißen“ meinte er die Nichtsinti, und diesen Begriff, so sagt er, hätten ihm die Kieler Sinti beigebracht. „Aber niemand ist mir beigesprungen.“

Es gibt viele Konfliktlinien in diesem Vermittlungsprojekt, vermutlich ist das normal, und das einzig Überraschende ist die Bereitwilligkeit, mit der die Betroffenen darüber sprechen. Über Konflikte zwischen den Mediatorinnen, zwischen Wanda Kreutz, die dem Landesverband nahesteht, und Wulf Steuer, zwischen ihr und Ute Weidt. „Warum sollen immer wir uns anpassen?“, ruft Wanda Kreutz. „Warum passt sich keiner uns an?“ „Das stimmt doch gar nicht“, sagt Ute Weidt. „Wir passen uns genauso an, das wird nur nicht gesehen.“

Eigentlich scheint es eine einfache Gleichung zu sein: Die Sinti-Familien passen sich den Schulerwartungen in Sachen Pünktlichkeit und Verlässlichkeit an. Sie schicken ihre Kinder mit auf Klassenreisen und lassen sie am Sexualkundeunterricht teilnehmen. Sie befreunden sich mit einer Lernkultur, die, anders als ihre eigene, schriftlich statt mündlich ist. Sie akzeptieren zu einem gewissen Grad Zurechtweisungen und Kritik von den Lehrern, die ihrerseits mit einem gewissen Grad an Unpünktlichkeit und Eigenwilligkeit der Sinti-Schüler leben lernen. Der Lohn: ein Abschluss an der Sonderschule. Aber welche Chancen hat man heutzutage, mit einem Sonderschulabschluss eine Stelle zu bekommen? „Die Mädchen heiraten“, sagt Wulf Steuer. Und die Jungen? „Sie machen ihre Geschäfte“, sagt Ute Weidt ein bisschen vage.

Zu Beginn ihrer Arbeit hat sie sich angewöhnt, Röcke statt Hosen zu tragen, so wie die Sinti-Frauen es tun. Die Mediatorinnen haben es ihr ausgeredet. Aber wenn sie sagt: „Sie drücken mich, als wäre ich eine von ihnen“, dann klingt es so, als werbe sie zumindest um eine Art Ehrenmitgliedschaft bei den Sinti.

Was nicht ausschließt, dass sie findet, dass die Lehrer auf dem Weg über die Brücke mehr Schritte getan hätten als die Sinti. „Man muss aufpassen, dass die Kinder einen nicht benutzen“, sagt sie. Aber wenn sie eine Stunde nach Unterrichtsbeginn kommen und sagen: „Bringst du mich in die Klasse und entschuldigst mich?“, dann geht Ute Weidt und entschuldigt sie. „Sonst kommen sie gar nicht“, sagt sie. Und weil es sonst niemand tut, kauft sie von ihrem Geld neue Schreibsachen, wenn die alten verschwunden sind, und deshalb klappert sie morgens die Häuser ab, um ihre Zöglinge abzuholen. Noch besuchen fünf Sinti-Kinder nicht die Regelklassen, sondern die Förderklasse, die sie gegen den Widerstand der Eltern eingerichtet hat, die darin ein Ghetto sahen. Sie hat ihre Pensionierung um ein Jahr herausgezögert, sodass auch das letzte Kind die Klasse beendet hat, wenn sie aufhört. Danach läuft die Klasse aus.

Was bleibt von dem Projekt? „Die Kinder kommen häufiger“, sagt Ute Weidt. Sie schätzt, dass sie jetzt die Hälfte des Unterrichts besuchen. Sie sind, anders als ihre Eltern, nicht mehr Analphabeten, wenn sie die Schule verlassen. „Sie werden das Gerüst für eine neue Sinti-Generation sein.“

Und die Sache mit dem Hund? „Du Hund“ ist eine der schlimmsten Beleidigungen unter den Sinti, aber unter den Nichtsinti weiß das kaum jemand. Manchmal sagt Wanda Kreutz zu Ute Weidt: „Du Jagdhund!“ Manchmal fordern die Sinti-Kinder die anderen Kinder auf, „Hund“ zu ihnen zu sagen, damit sie einen Anlass haben, sie zu verprügeln. Eines der ungeschriebenen Gesetze der Sinti sei es, so sagt Wanda Kreutz, die Kinder zu verteidigen. Ihnen zu vertrauen. Jetzt, in der Schule, müssen die Mediatorinnen bei den Kindern nachfragen. „Warum hat er ‚Hund‘ zu dir gesagt?“

FRIEDERIKE GRÄFF, Jahrgang 1972 , ist Redakteurin der taz nord und lebt in Hamburg