Brasilianische Sturmtonne auf dem Tivoli

Die Fußball-Bundesliga vor dem Start (6): Alemannia Aachen. Der Neuling sucht im Abstiegskampf die Offensive

Was bleibt von der WM? Aachener waren nur als Fans, Grenzschützer und Volunteers WM-beteiligt. Mit der Doppelsechs, der gefeierten taktischen Novität, hatte Alemannia schon die Uefacup-Saison 2004/05 bestritten. Und der australische Fastneuzugang Joshua Kennedy ist statt nach Aachen gen Nürnberg gewechselt und hat sich da die Achillessehne gerissen.

Wer sind die Stars? Jeder einzelne im Verbund. Alemannia setzt auf Geschlossenheit, Gesamtgruppenbildung. Der pfeilschnelle Jan Schlaudraff kann, so er sein gelegentliches Phlegma ablegt, groß rauskommen. Linksverteidiger Jeffrey Leiwakabessy, aus Hollands Ehrendivision gekommen (Nijmegen), spielt hoffentlich so gut wie sein Name klingt. Ob Matze Lehmann, Kapitän der deutschen U21, nach seinem verschlamperten Jahr bei 1860 wieder funktioniert, weiß niemand. Er war mit rund 900.000 Euro der teuerste Einkauf der Clubgeschichte, weshalb Aachens Sparkommissare auf Ratenzahlung bestanden.

Was macht der Trainer? Der leidenschaftlich unaufgeregte Dieter Hecking setzt auf Begeisterung in „einem verschworenen Haufen“. Alemannias Teamspirit, altdeutsch: Kameradschaft, gilt als wegweisend gut. Hecking sagt: „Entscheidend ist, wie sich die Neuen in die Gruppe einbinden.“ Und er glaubt: „Wer sich hier nicht zurechtfindet, schafft es nirgendwo.“ Hecking will „einen optimalen Tabellenplatz“ erreichen. Suboptimal war das Testspiel gegen TuS Koblenz – 1:4. Besser lief es gegen Champions-Ligist RSC Anderlecht (4:1) und am Mittwochabend gegen den PSV Eindhoven (1:1).

Wie sieht die Taktik aus? So offensiv wie möglich, lautet die interne Vorgabe, auch wenn das mal mit einer Klatsche endet. Nach gängigen Klischees wie Routine und Ligaerfahrung ist der Kader kaum erstligareif. Aber demnach hätte Mainz vor zwei Jahren auch gleich wieder durchgereicht werden müssen.

Sind die Fans glücklich? Weitgehend sind sie selig. Alle Saisondauerkarten (15.000) waren in Windeseile unters Volk gebracht. Für das erste Spiel in Leverkusen meldete der Club: „Rund drei Stunden wurden die knapp 2.000 Karten im Fanshop verkauft. Zur Öffnung um 10 Uhr betrug die Länge der Schlange mehrere hundert Meter. Einige hatten auf dem Tivoli-Vorplatz sogar übernachtet.“ Der Ebay-Handel boomt. Präsident Horst Heinrichs sagte: „Unser eigentliches Zuhause bleibt die 2. Liga.“ Bald schon wurde die präsidiale Ungeheuerlichkeit als eine Art Arbeitsplatzgarantie für den Trainer gedeutet und um den schönen Begriff vom „gefühlten Anderthalbligisten“ ergänzt. Am 14. August, kurz nach dem ersten Bundesligaspiel seit 36 Jahren, soll eine Mitgliederversammlung die Ausgliederung der Profiabteilung in eine GmbH absegnen. Der traditionsverwobene Alemannia-Anhang mit seiner hochlebendigen Hipp-Hipp-Hurra-Mentalität will das überlebenswichtige Clubsplitting nur mühsam als Zugeständnis an die Moderne schlucken. Alemannia, gestern noch Inbegriff des Gestrigen, hat zur heutigen Saisoneröffnungsparty, „mit unseren Sponsoren einen tollen Eventmodul-Park geschaffen“.

Die Prognose: locker Platz 13. Warum sollen andere besser sein? Kaum die beiden Mitaufsteiger Bochum und Cottbus, dazu sieht man Bielefeld, Frankfurt, Wolfsburg, vielleicht Hannover und Mainz auf Augenhöhe. Alemannia setzt vordergründig auf Heimstärke im lauten und engen Kessel Tivoli. Hintergründig und vielleicht -hältig spekulieren sie auf Unterschätzung in der Fremde. Die Hoffnung: Da wird manch überraschender Dreier gelingen. Bayern statt Ahlen – Sportdirektor Jörg Schmadtke spielt den Gelangweilten: „Jedes Jahr gibt es 18 Mannschaften, und gegen 17 müssen wir spielen.“

Der X-Faktor: Erik Meijer, 37. Der kultisch verehrte Exkapitän arbeitet jetzt als Marketing-Azubi in der Geschäftsstelle, wo ihm große kommunikative Fähigkeiten zugesprochen werden. Meijer will am 8. Oktober gegen ein Willi-Landgraf-Team sein Abschiedsspiel geben und hat dazu neben Jens Nowotny und Ulf Kirsten (Kumpels aus Leverkusener Tagen) auch Robin Fowler und Rekonvaleszent Michael Owen (Mitspieler in Liverpool) eingeladen. Und dazu die brasilianische Sturmtonne Ronaldo – mit dem 17-jährigen Zahnspangenträger hat Meijer vor 13 Jahren in Eindhoven gespielt. Bundesliga-Rückkehr nach 36 langen Jahren ist die eine Sache – aber Meijers Spiel, so ein Fan im Forum, werde „das geilste Erlebnis, was es je am Tivoli geben wird“.

BERND MÜLLENDER