HAMBURGER SZENE VON JULIAN KÖNIG
: Bleiben oder gehen

„Siktir“, sagt der Zweite. Ich spreche nicht viel Türkisch, aber das habe ich verstanden: Ich soll mich verpissen

Da ist so ein weinerliches Geräusch, trotz meiner Kopfhörer kann ich es hören. Das Geräusch kommt von hinten, ich schaue über die Schulter und sehe zwei Jungen, die einen dritten vor sich herschieben. Das Trio verschwindet in Richtung einer Sackgasse, weg vom Trubel der Einkaufsstraße. Niemand beachtet sie. Was tun? Ich werde langsamer, nach ein paar Schritten kehre ich um. Hoffentlich ist es nichts Ernstes, denke ich. Vielleicht machen die ja nur Spaß.

Die Jungs sind nicht weit gekommen. Der eine hockt in einer Ecke, die beiden anderen reden lautstark auf ihn ein. Ich schätze sie auf maximal zwölf Jahre. „Aufhören!“, rufe ich, die beiden drehen sich um. „Verschwinde“, sagt der eine. Er hat sich die Seiten am Kopf kahl rasiert und trägt ein T-Shirt, auf dem „Willkommen in Altona“ draufsteht. Dann sehe ich, dass das „O“ bei Altona durch die Abbildung eines Schlagrings ersetzt ist.

Gut, dass die nicht älter sind, denke ich. „Siktir“, sagt der Zweite. Ich spreche nicht viel Türkisch, aber das habe ich verstanden: Ich soll mich verpissen. „Was ist los?“, frage ich und versuche, ruhig zu bleiben. Dann fährt ein Auto in die Sackgasse, und ein älteres Pärchen steigt aus. Sie seien Nachbarn des weinenden Jungen, sagen sie, und dass sie jetzt die Situation klären werden. Es wäre besser, wenn ich gehen würde.

Verwirrt kehre ich zurück auf die Einkaufsstraße. War es jetzt richtig, dass ich gegangen bin? Oder hätte ich besser dableiben sollen? War ich in Gefahr? Oder war alles nur halb so wild? Ich weiß es nicht. JULIAN KÖNIG