Über die Stasi spricht man nicht

Viele junge Leute im Osten der Republik haben wenig Ahnung davon, wie es in der DDR zuging. Woher auch? In der Schule wird das Thema kaum behandelt – und die Älteren verklären die Geschichte

„Die Schüler gehen mit den Maßstäben von heute an die DDR heran“

VON MIA RABEN

Seitdem Paula (Name geändert) die harten Fakten über die DDR erfahren hat, ist sie „einfach fassungslos“. Die 26-Jährige fragte ihren Vater aus. Der hatte am Grenzzaun mitgebaut und dann die Armee verlassen. Sie ging in Berlin, wo sie im Osten aufwuchs, zu einer Lesung mit ehemaligen Häftlingen des Stasi-Gefängnisses Hohenschönhausen. Da hörte sie von systematischem Schlafentzug, von Isolierzellen, Endlosverhören und all den anderen Methoden. Dann besuchte sie die Gedenkstätte Höhenschönhausen. „Es war erdrückend“, sagt sie.

Ihre Empfindungen wollte sie unbedingt teilen. Mit den Freunden aus der vertrauten Clique hatte sie sonst alles besprochen. Die meisten von ihnen sind in Ostberlin aufgewachsen, mit einigen ist Paula in denselben Kindergarten, dieselbe Schule gegangen. „Als ich mit dem Thema anfing, stieß ich auf allgemeines Desinteresse. Meine Leute reagierten nach dem Motto: Ja, mh, war irgendwie schlimm, aber war halt so“, sagt sie. Als gäbe es da nichts zu bereden.

Sie versuchte es weiter. Auf dem Weg zu einem Einkaufsbummel mit ihrer Freundin Maike (Name geändert) erzählte sie von dem Buch „Stasiland“ der australischen Autorin Anna Funder. „Da war ein junger Mann, Charlie, der ist 1980 im Stasi-Knast gestorben. Vielleicht hat ihn die Stasi sogar ermordet!“ Paula will ihrer Freundin die Geschichte von Charlie und seiner Frau Miriam erzählen, doch Maike bekommt mitten auf der Straße einen Wutanfall: „Woher willst du wissen, dass das stimmt, was in dem Buch steht? Hör sofort auf, davon zu reden!“, schreit sie.

Sie haben sich nach dem Streit beruhigt und sind einkaufen gegangen. Paula ist milde. „Wenn die Leute über etwas nicht reden wollen, kann man sie nicht dazu zwingen. Das hat nichts mit unserer Freundschaft zu tun. Aber es ist schon schade. Wir sind doch zusammen im Osten groß geworden“, sagt sie. Paula weiß, dass Maikes Opa bei der Stasi war. „Er wollte darüber schreiben, aber niemand wollte es drucken. Ich glaube, dass Maike von ihrem Opa beeinflusst wurde“, sagt sie.

Das würde niemanden wundern, der in letzter Zeit feststellt, wie Täter sich selbstherrlich zu Opfern erklären. Mit grotesker Dreistigkeit bestehen bestens organisierte Gruppen von ehemaligen Stasi-Funktionären immer schriller auf die Wiederherstellung ihrer „Ehre“. Dabei bleiben sie weitgehend unbehelligt.

Joachim Gauck, der erste Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, sagte der FAS kürzlich: „Viele Ossis haben heute einen Spruch auf den Lippen, der mit dem vergleichbar ist, was ich von meiner Großmutter nach dem Krieg gehört habe: Es war nicht alles schlecht beim Führer. Wie nach 1945 gab es auch nach dem Ende der DDR die Weigerung, die Fakten anzuerkennen: Unterdrückung, Gewalt, Diktatur. Und die Fühllosigkeit gegenüber dem Leid der Opfer. Doch wie damals im Westen wird auch im Osten der Prozess der inneren Auseinandersetzung beginnen. Die nachholende geistige Befreiung hat noch nicht bei allen begonnen, doch sie wird ein großes Thema in den Familien des Ostens werden.“

Steht Deutschland vor einer Zäsur in der Aufarbeitung der DDR-Geschichte? Die angesprochene „Fühllosigkeit gegenüber dem Leid der Opfer“ macht jedenfalls stutzig. Die Opfer sind nicht so gut organisiert wie die Ex-Stasi. Sie sind untereinander zerstritten. Es muss frustrierend sein, wenn dein früherer Folterknecht dich später auslacht. Und eine weit höhere Rente kassiert als du.

Wolfgang Rüddenklau hat diesen Zustand verinnerlicht. Der ehemalige DDR-Oppositionelle und Mitherausgeber der Umweltblätter führt eine Besuchergruppe durch die Gedenkstätte Hohenschönhausen. Es geht um Nachtverhöre. „Sie können mir wirklich glauben, dass die Wärter darauf achten, dass die Häftlinge tagsüber nicht schlafen“, sagt er und weist auf den Spion in der Zellentür. Er kommentiert die Foltermethoden so, als müsste er die Gruppe mit aller Kraft davon überzeugen, dass hier Unrecht geschehen ist.

„Es ist sehr deprimierend, mit anzusehen, wie diese Rentner-Gang wieder aufblüht. Erst haben sie sich in verschiedenen Prozessen finanziell wiederhergestellt. Und nun fehlt ihnen noch die Ehre des Ministeriums für Staatssicherheit. Und sie haben viele Arten und Wege, dies zu erreichen“, sagt Rüddenklau. Ehemalige Stasi-Mitarbeiter erstritten in verschiedenen Prozessen die Sicherung ihrer Altersrente. Jetzt fordern sie die gesellschaftliche Anerkennung für ihre Arbeit. Überrascht ist Rüddenklau deshalb nicht: „Dass die Täter sich zusammenscharen, ist ja in Deutschland bisher nach jedem gescheiterten Regime so gewesen.“

Die Führung endet in der eingemauerten Hofganganlage. Rüddenklau sagt: „Den Tätern geht es ziemlich gut, sie bekommen hohe Renten. Viele Opfer konnten ihre Ausbildungen wegen der Haft und deren Folgen nicht zu Ende machen und wohnen in Sozialwohnungen.“ Über die von der Regierungskoalition versprochene SED-Opferrente gibt es jetzt doch wieder Streit. Zum Schluss sagt Rüddenklau: „Das ist alles sehr traurig.“ Ein junges Pärchen aus den Niederlanden sieht bedrückt aus. Kaum hörbar sagt sie zu ihm: „Best wel raar, toch?“ Ziemlich merkwürdig, oder? Allerdings.

Paula fragt sich, woher „dieses Desinteresse in meiner Clique“ kommt. Jahrelang hatte Paula in ihrer Plattenbausiedlung in der Weißenseer Hansastraße mit ihrer Grundschulfreundin Claudia (Name geändert) eine Treppenhaus-Freundschaft. Paulas Vater erlaubte nicht, dass Claudia die Wohnung betrat. Claudia wohnte mit ihren Eltern in den „Hunderter Nummern“ und hatte mal in Bonn gelebt. In den Hausnummern ab einhundert aufwärts, sagte man sich in der Gegend, wohnten die Stasi-Familien. Und wer zu DDR-Zeiten in Bonn lebte, hatte wohl gute Beziehungen zu staatlichen Organen. Genug Verdacht für Paulas Vater. Paula und Claudia haben noch nie darüber gesprochen. Sie sind bis heute befreundet.

„Meine Leute, die lesen und studieren doch!“, sagt Paula. In einer Befragung der Freien Universität Berlin von über 2.000 Berliner Schülern sollte die DDR mit der BRD verglichen werden. Die Hälfte der Schüler befand, die Bundesrepublik sei anders, aber nicht besser als die DDR. „Ich glaube“, sagt Paula nach langem Überlegen, „es ist die Unwissenheit.“

Wenn die DDR in deutschen Schulen angesprochen wird, dann „nicht sehr ausführlich“ oder nur als „Unterthema vom Kalten Krieg“, sagt Hubertus Knabe, Direktor der Gedenkstätte Hohenschönhausen. „Uns macht Sorgen, dass Schüler mit den Maßstäben von heute an die DDR herangehen. Das Verständnis dafür, dass ein Rechtsanwalt in der Diktatur eine andere Rolle spielt als in der Demokratie, fehlt oft völlig“, sagt er.

„Woher willst du wissen, dass das stimmt, was in dem Buch steht?“

Der Film „Das Leben der Anderen“ ist ein wichtiger Anfang, das Thema DDR-Diktatur in die öffentliche Debatte zu zerren. Er reicht aber nicht aus, um die kriminelle Dimension des DDR-Regimes zu vermitteln. Dafür sind Gedenkstätten wie jene in Höhenschönhausen wichtig. Das Gutachten der Kommission zur DDR-Geschichtsaufarbeitung unter der Leitung des Historikers Martin Sabrow hat die „deutlich übergewichtige Konzentration auf Orte der Repression und der Teilung“ bemängelt. Vielmehr solle man sich der „spannungshaften Wechselbeziehung von Herrschaft und Gesellschaft zwischen Akzeptanz und Auflehnung, Begeisterung und Verachtung, missmutiger Loyalität und Nischenglück“ zuwenden.

Im neu eröffneten DDR-Museum an der Spree passiert genau das leider gar nicht. Ja, eine Grenzstreifenattrappe samt antifaschistischem Schutzwall ist zu besichtigen, auch eine Stasi-Abhörecke mit Infotafel. Es ist zwar nur ganz nett, die niedlich instruktiven Kinderfigürchen Wattfraß (zum Stromsparen) und Rumpelmännchen (für den Umweltschutz) kennen zu lernen. Aber völlig kritikfrei?

Bei Staatsbesuchen wurden „Winkelemente“, im Volksmund „Jubelfetzen“, verteilt und wild geschwenkt. Auch als US-Präsident George Bush Stralsund besuchte, gab es Jubelfetzen vor einer Scheinkulisse. Diese (nicht vorhandene) Spannung zwischen Staat und Gesellschaft wäre durchaus zu hinterfragen. Aber wer soll diese Fragen schon in staatsfinanzierten Ausstellungen oder Museen stellen?

Neulich in Berlin hatten ein junger Architekt und seine Freundin, die aus Ostberlin stammt, Besuch aus Übersee. Die Gruppe spazierte durch das Brandenburger Tor, vorbei an den Gedenktafeln für die Mauer-Toten. Er wollte den Gästen die DDR-Geschichte „schonend“ beibringen. „Meine Freundin ist da sehr empfindlich“, sagt er, „deswegen wusste ich nicht, wie ich darüber sprechen soll.“

Das naive Kindheitsideal der DDR fiel für Paula „wie ein Kartenhaus“ zusammen. „Alles, was ich an der DDR gut fand, war plötzlich weg. Warum wurde denn in der DDR das Vertrauen untereinander so gefördert? Warum wurde das Individuelle unterdrückt? Warum gab es die soziale Fürsorge? Mir wurde erst jetzt klar, dass der Staat uns dieses wohlige Gefühl einimpfen wollte.“ Die Philosophie des langjährigen Stasi-Chefs Erich Mielke war es eben, vorbeugend zu wirken, zu wissen, wer wie denkt.

Paula war lange unwissend. „Es muss einen Anreiz geben, sich damit auseinanderzusetzen“, sagt sie. Freunde und Bekannte aus Westdeutschland und Australien stellten Fragen, „wie es damals in der DDR war“. Paula merkte, dass sie keine Ahnung hatte. Und wenn der Anreiz nicht aus der privaten Umgebung kommt? Vielleicht muss es Helden und Antihelden geben, um das Unrecht in der Geschichte zu begreifen. Anna Funder („Stasiland“) sprach in einem Interview mit der Welt über die Widerständler in der DDR: „Einem System, das wie für die Ewigkeit gemacht auftrat, setzten sie zitternd dieses Wörtchen ‚Ich‘ entgegen. Mein Gott, warum sollten das denn keine Helden sein?“