Der „Homo precarius“ lebt mit der Unsicherheit. Aber wie? Heute: Jorge, 41. Er lebt ohne Pass in Berlin
: „Ich wollte nach Deutschland, um den Traum meiner Eltern zu verwirklichen“

Jorge* ist nicht in Deutschland. Das zumindest sollen alle glauben, die ihm dieses Land nicht gönnen. Er macht sich für diejenigen unsichtbar, die ihn nicht sehen sollen: für Beamte, Behörden, Banken, sonstige Institutionen. Einfach ist seine Anonymität nicht in einem Land mit Einwohnermeldepflicht und Krankenversicherung und in dem die meisten Menschen auch noch ganz anders aussehen als er. Jorge ist 41, etwa 1,60 Meter groß und hat dunkle Haut. Seit zehn Jahren lebt er in Berlin – ohne Pass.

Seinen Lebensunterhalt verdient Jorge mit Putzen. Er schrubbt in Büros, in Clubs und Wohnungen, manchmal arbeitet er in Restaurants als Küchenhilfe – schwarz versteht sich. Und auf Rufbereitschaft. Das heißt: Frühmorgens um 5 Uhr erfährt er, wann und wo er putzen soll. Manchmal kommt aber auch kein Anruf. Dann wird’s finanziell ziemlich eng.

Er war 27, als er Berlin zum ersten Mal besuchte. Damals kam er aus der Ukraine, um mit Geschäftspartnern Autoteile abzuholen, die im Ostblock verkauft werden sollten. „Ich wollte nach Deutschland, um den Traum meiner Eltern zu verwirklichen“, sagte er. „Aus mir sollte was werden.“ Vier Jahre nach dem ersten Besuch im Ostteil der Stadt kam er, um zu bleiben. Er reiste als Tourist mit falschen Papieren ins Land. Doch von dem Traum ist wenig geblieben.

Sein Vater war Bergarbeiter in den Anden. Er wollte, dass es seine Kinder einmal besser haben als er selbst. Jorge verhalf er zu einem Stipendium für ein Studium in der Sowjetunion. Ingenieur sollte er werden. Jetzt putzt er Toiletten für 3,50 Euro die Stunde. „Ich weiß nicht, was mein Vater heute über mich denkt“, erzählt er. „Wir haben den Kontakt verloren.“

Sein Zimmer teilt er sich mit zwei Latinos. „Wir haben 20 Quadratmeter Freiheit“, erzählt er. „Wenn wir viel trinken, dann erinnern wir uns an die Heimat.“ Dann wird Gitarre gespielt, gesoffen und oft geweint. Um nicht zu sehr in Wehmut zu versinken, laden sie „Mädels“ ein, erzählt er. Dann wird es lustig, sagt er, und meistens bezahlen die Mädchen die Getränke. „Wir sparen uns die Tränen und Geld und haben einen schönen Abend.“ Manchmal springt eine Einladung zum Frühstücken bei einer der Frauen heraus. Dann sei alles perfekt. Das sind die kleinen Momente des Glücks.

Allergisch reagiert er auf Uniformierte. Kontrolleure der BVG fürchtet er. „Die können mich sichtbar machen“, befürchtet Jorge. Bei einer Personenkontrolle bleibt ihm nur eins: „Ich muss schneller sein als andere.“ Bis jetzt ist alles gut gegangen.

BLAS URIOSTE

* Name geändert