Doppelte Titelverteidigung

Dwain Chambers war bei der EM vor vier Jahren der Schnellste über 100 Meter. Dann wurde er des Dopings überführt. Nach seiner Sperre ist der Sprinter wieder für Großbritannien unterwegs

AUS GÖTEBORG SUSANNE ROHLFING

Dwain Chambers reißt sich das T-Shirt vom Leib, er zeigt seinen immer noch imposanten, aber nicht mehr ganz so überdimensionierten Oberkörper. Der Verzicht auf die Einnahme von Steroiden, Insulin und Epo hat ihn schmaler werden lassen. Sein Innerstes aber verschließt der Sprinter aus Großbritannien. Im Vorlauf über 100 Meter war der 28-Jährige am ersten Tag der Europameisterschaften in 10,24 Sekunden der Schnellste, und auch bei der Flucht aus dem Stadion war er so flink wie kein anderer. Er wollte sie nicht hören, die Frage, die ihm sicherlich gestellt worden wäre. Er wollte nicht erklären, wie es sich anfühlt, nach einer zweijährigen Dopingsperre wieder bei einem großen Event aufzutreten.

Vor vier Jahren in München war Chambers der Held des britischen Teams gewesen. Er gewann den Titel über 100 Meter und führte die Staffel als Schlussläufer zum Erfolg. Es schien, als zahlte sich sein Wechsel von seinem Trainer Mike McFarlane zum ukrainischen Sprint-Guru Remy Korchemny nach San Francisco aus. Doch 2003 kam das böse Erwachen, am 1. August wurde er positiv auf das Designer-Steroid THG (Tetrahydrogestrinon) getestet, das in dem US-Labor Balco entwickelt worden war. Chambers wurde für zwei Jahre gesperrt und ist erst seit dem 6. November 2005 wieder startberechtigt. „Das alles hat mir gezeigt, dass ich besser dran war, bevor ich nach Amerika gegangen bin“, sagte er. „Ich war viel glücklicher, der Sport war Spaß. In Amerika wurde alles zu einem Albtraum.“

Die zurückliegende Hallensaison verpasste Chambers noch. Er musste mit dem Leichtathletik-Weltverband (IAAF) verhandeln. Denn in einem BBC-Interview hatte er zugegeben, schon in den 18 Monaten vor seinem positiven Test verbotene Substanzen eingenommen zu haben. Diese Ehrlichkeit bescherte ihm schließlich eine Rechnung von 175.000 Euro und den Verlust seines EM-Titels. Er musste seine Preisgelder der Jahre 2002 und 2003 zurückzahlen und auch die britische Staffel bekam ihren EM-Sieg aberkannt.

Im Juni feierte Dwain Chambers in Gateshead ein beeindruckendes Comeback. Er rannte die 100 Meter in 10,07 Sekunden, schneller ist während seiner Abwesenheit kein Brite gewesen. Beim Europacup in Malaga kehrte er ins britische Team zurück und wurde Zweiter hinter dem Franzosen Ronald Pognon. „Für die Chance, noch einmal das britische Trikot tragen und mein Land vertreten zu dürfen, bin ich sehr dankbar“, sagte Chambers damals. Bei den britischen Trials warf ihn jedoch eine Oberschenkelverletzung zurück. Er musste im Halbfinale aufgeben und verdankt seinen Startplatz im britischen EM-Team vor allem seiner guten Vorleistung in Gateshead.

In Großbritannien ist die Öffentlichkeit offenbar bereit, an Chambers Läuterung zu glauben. Ein Grund wird wohl sein, dass die Briten keine große Auswahl an Leichtathletik-Helden haben. Keiner ihrer Athleten ist als Führender der europäischen Bestenliste zur EM nach Göteborg gereist. Und Chambers befindet sich als einer von vier Zweitplatzierten noch in der aussichtsreichsten Position. Der Portugiese Francis Obikwelu war mit 10,03 Sekunden bislang nur einen Hauch schneller.

Wenn die beiden Sprinter heute Abend im 100-Meter-Finale sind, wollen sie beide – irgendwie – ihren Titel verteidigen. Obikwelu, der Europameister, will den Titel verteidigen, den er als Zweiter der EM 2002 erst vor fünf Wochen am grünen Tisch zugesprochen bekommen hatte. Und Chambers will den Titel verteidigen, den er unrechtmäßig gewonnen und deshalb wieder verloren hatte.