Wer’s glaubt, wird selig

WUNDER Für ihren Besuch beim Sonntagsgottesdienst der Freien Gemeinde Neugraben hatte sich unsere Autorin strikte religiöse Neutralität auferlegt. Doch das war nicht so leicht

Die Adresse der Freien Gemeinde Neugraben klingt nach Idylle: Waldesschlucht 12–14. Und wirklich mutet der Weg dorthin wie ein Ausflug ins Grüne an: Von der S-Bahn Neugraben im Hamburger Süden geht es in ein Gebiet, dessen Straßen alle auf „Heide“ enden – Ostheide, Glockenheide, Grenzheide. Nach dem letzten Heideweg taucht die Waldesschlucht auf. Das längliche, schlichte Gebäude der Freien Gemeinde Neugraben liegt etwas auf der Anhöhe und erinnert an eine Jugendherberge.

Am Eingang werden die Gäste von einem älteren, weißhaarigen Mann im blauen Anzug mit einem freundlichen „Seien Sie gegrüßt“ in Empfang genommen. Der lichtdurchflutete Saal ist bereits sehr gut gefüllt, es ertönt leise Kaufhausmusik. Auf den Stühlen sitzen Teenies, die mit ihrem iPod spielen, Familien, die ihre quengeligen Kleinkinder in Schach halten sowie ältere Herrschaften, die einfach nur geduldig warten. In der Zwischenzeit geht eine Dame mit weißblondem, toupiertem Haar, Funkelring und knallrotem Blazer durch die Reihen und begrüßt jeden per Handschlag, dabei über das ganze Gesicht lächelnd.

Diese Dame, die von einigen als „Gaby“ angesprochen wird, ist die Frau von dem weißhaarigen Mann im blauen Anzug. Die beiden sind die Leiter der Freien Gemeinde Neugraben, die zu diesem Sonntagmorgengottesdienst eingeladen haben. Mit bestimmter und zugleich schneller Stimme heißt Gaby vom Rednerpult die Gemeinde willkommen. „Wir sind hier, oh Jesus, um dich anzubeten, um deine Stimme zu hören, um deine Nähe zu spüren, vor deinem Thron zu stehen, mit unserer Last, die jetzt wohl auf unseren Schultern schwer wiegt, um bei dir, oh Herr, Erleichterung zu finden.“

So wie sie redet, könnte sie auch auf einer Verkaufsveranstaltung von Avon sein. Doch die Anwesenden denken anders und rufen immer wieder ein überzeugtes „Amen“ dazwischen. Ebenso überzeugt geht es bei den Gesangseinlagen zu, die von zwei jungen Frauen animiert werden. An Bassgitarren auf der Bühne stehend, schmettern sie mit geschlossenen Augen die eingängigen Melodien, deren simpler Text auf der Leinwand über ihnen ablesbar ist: „Du hast mich frei gemacht, ich gebe dir die Vollmacht, zu herrschen in Autorität.“

Wie bei einem Schlagerkonzert schunkelt die Gemeinde im Stehen, reißt die Hände nach oben, klatscht und bläst in die Tröte. Nach der etwa 27. Wiederholung ein und derselben Textstelle beginnt meine professionelle Beobachterrolle zu bröckeln, ein erster Hauch von Verzweiflung kommt auf. Bei aller Liebe und Offenheit für alle Arten von Milieus: Ich möchte hier nicht mehr weitersingen, weder im schunkelnden Stehen noch im Sitzen.

Doch der härteste Teil des Gottesdienstes kommt noch: der Auftritt des Hamburger Arztes Dr. Arne Elsen, eines Diabetologen. Nett lächelnd steht der 52-Jährige in seinem braunen Cashmere-Pullover da, doch was er dann in seiner über einstündigen Predigt von sich gibt, hat es in sich. Dr. Elsen erzählt von wundersamen Heilungsgeschichten und demonstriert dabei, zur Freude der Gemeinde, wie er mit Gott im ständigen Austausch steht.

Von rechts oben, so macht es Dr. Elsen glauben, hat Gott ihm seine Anweisungen ins Ohr geflüstert. Und so geschah es, dass eine 50-jährige Frau ohne Eierstöcke ein Kind bekam, ein dem Tod geweihter Krebskranker kerngesund wurde und die schwer MS-kranke Frau eines zunächst atheistischen Taxifahrers diesen nach Feierabend vollkommen geheilt begrüßte. Die Gemeinde ist begeistert und ruft immer wieder „Amen“ und „Halleluja“ dazwischen.

Auch ich fange nun an, mit Gott zu sprechen, meinen Kopf leicht nach rechts oben neigend, und frage ihn, warum er mir mit diesem Gottesdienstbesuch eine so schwere Bürde auferlegt hat. Doch siehe da, ohne dass ich es mir vorgenommen hätte, sozusagen wie von Gottes Hand geleitet, stehe ich auf und gehe. Draußen lacht die Sonne, die Tannen wiegen sich im Wind. Hallelujaaaaa!  DARIJANA HAHN