Die Parade der Toten und Untoten

HAITI Am 23. August jährt sich zum 219. Mal der Aufstand gegen die Sklavenhalter in Haiti. In den Masken des Karnevals findet die Geschichte der Gewalt ihr Echo. Der Fotoband „Kanaval“ der englischen Filmemacherin Leah Gordon zeigt den Karneval in der Stadt Jacmel

Leah Gordon: „Kanaval. Vodou, Politics, and Revolution on the Streets of Haiti“. London, Soul Jazz Publishing, 2010, 159 Seiten, 19,90 Pfund

Hubert Fichte: „Xango. Die afrikanischen Religionen Bahia Haiti Trinidad“. Gebunden oder als Taschenbuch bei Fischer, 353 Seiten, antiquarisch oder in Bibliotheken

VON JULIAN WEBER

Haiti bleibt hierzulande – auch nach dem verheerenden Erdbeben vom 12. Januar 2010 – ein blinder Fleck der Geschichte. Auf ein Land, das sich seit 200 Jahren im Ausnahmezustand befindet, lassen sich keine radikalen Sehnsüchte projizieren, wie sie etwa der lakondonische Urwald und die darin gegen die Staatsmacht aktive mexikanische Guerilla EZLN befeuern.

Der französische Ethnologe Michel Leiris konstatierte bereits 1948, dass die negative Berichterstattung über haitianische Voudou-Zeremonien ihn an das Vorurteil erinnerte, Juden würden rituelle Morde begehen. An den Vorurteilen gegen Haiti hat sich seither nur wenig geändert. Der letzte deutsche Intellektuelle, der mit seinem Interesse für das Schicksal des Landes auch bekannt wurde, war der Schriftsteller Hubert Fichte, und der ist bereits 1986 verstorben.

Wie eine Aktualisierung von Fichtes poetisch-anthropologischen Forschungen in seinem Montageroman „Xango“ mutet der Foto- und Essayband „Kanaval. Vodou, Politics and Revolution on the Streets of Haiti“ an. Die Herausgeberin, die britische Fotografin und Filmemacherin Leah Gordon, hat darin Fotos versammelt, die sie seit 1991 während des alljährlich im Februar stattfindenden Karnevals in der haitianischen Hafenstadt Jacmel gemacht hat. Flankiert werden ihre Schwarzweiß-Aufnahmen von Essays verschiedener Autoren und kurzen „Oral Histories“, in denen Gordon Bedeutungen der Karnevalsverkleidungen und -Masken von ihren Trägern erklären lässt.

Eine Lücke im Diskurs über Haiti schließen

Gordons großzügig gestaltetes Fotobuch ist beim Londoner Plattenlabel Soul Jazz erschienen, das sich der Archivierung afro-amerikanischer und -karibischer Musikkulturen schon lange verschrieben hat. Das Buch schließt nun eine Lücke im Haiti-Diskurs.

„Seile symbolisieren die Ketten, mit denen wir gefesselt waren. Im Karneval lassen sich die Menschen gerne einschüchtern, und wir können das am besten“

SALNAVE RAPHAEL, SEILWERFER

Die Fertigstellung von Gordons Fotoband wurde von dem schweren Erdbeben im Januar 2010 überschattet. Fast alle Kirchen und Wohnhäuser sind dabei eingestürzt, das öffentliche Leben kam völlig zum Erliegen. Das einzige, was in Haiti verschont geblieben sei, sind die Grabsteine auf den Friedhöfen, schreibt die Autorin im Vorwort.

Tote und Untote spuken durch die haitianische Geschichte seit den Zeiten des Sklavenaufstands, seit am 23. August 1791 ein Voudou-Priester namens Boukman während einer Zeremonie im Wald von Bwa Kayman ein schwarzes Schwein rituell opferte und mit seinem Blut „liberté ou morte“ schrieb, „Freiheit oder Tod“. Sklaven stürmten daraufhin zurück in ihre Plantagen, meuchelten die Besitzerfamilien und erhoben sich zu Tausenden in einem blutigen Aufstand gegen die Kolonisatoren. Als erstes afroindianisches Land in der neuen Welt erklärte Haiti 1804 seine Unabhängigkeit von Frankreich. Ein wichtiges, wenn auch wenig beachtetes Ergebnis der Französischen Revolution.

Hubert Fichte stellte in „Xango“ einen Zusammenhang zwischen den Riten des Voudou und der Geschichte des Landes her. In der synkretistischen Religion, deren Phänomenen er auch in Brasilien und auf der Karibikinsel Trinidad nachging, erkannte der Schriftsteller psychodramatische und ästhetische Gegenbewegungen zur Herrschaft der Reichen. Zu Fichtes Lebzeiten war das der Diktator Jean Claude „Baby Doc“ Duvalier. Fichte sah in den übernatürlichen Erscheinungen des Voudou einen raffinierten Kommentar zum verloren gegangenen Erbe der Kolonialgeschichte. Voudou definierte er als „Vermischung afrikanischer Religionen mit Katholizismus, Freimaurerei, Spiritismus und möglicherweise einigen Gebräuchen der fast ausgerotteten indianischen Urbevölkerung“.

Beim Karneval von Jacmel, so zeigt Leah Gordon, erinnern die furchterregend aussehenden „Lanse Kods“ (Seilwerfer) an die Zeit der Sklaverei. Sie tragen Kapuzen und Stierhörner, haben ihre nackten Oberkörper mit schwarzer Kohle und glänzendem Zuckerrohrsirup eingerieben. Statt von Gürteln werden die zerfetzten Hosen von Seilen zusammengehalten. Die Gestalten sind so düster, schreibt Katherine M. Smith in Gordons Buch, sie besetzen einen negativen Raum. Gelegentlich halten die Lanset-Kods an und machen zum Kommando einer Trillerpfeife Liegestütze: ein Zeichen von Stärke. „Seile symbolisieren die Ketten, mit denen wir gefesselt waren. Im Karneval lassen sich die Menschen gerne einschüchtern, und wir können das am besten“, schildert der Seilwerfer Salnave Raphael. Wenn sie mit ihren klebrigen Körpern und schnalzenden Seilen durch die Straßen jagen, werden die Peitschenhiebe und der unmenschliche Horror der Zwangsarbeit wieder lebendig.

Die Kommentierung der Traumata

Fichte sah im Voudou einen raffinierten Kommentar zum verloren gegangenen Erbe der Kolonialzeit

Andere Kostümierungen erinnern an die haitianische Gegenwart: weiß gekalkte Gespenstergesichter symbolisieren UN-Blauhelmsoldaten und ihre weißen Militärfahrzeuge, grimmige Crossdresser wandeln als Huren durch die Stadt, dabei ein Schild auf dem Rücken tragend mit der Botschaft „Genyen SIDA“ (Habe mich mit Aids infiziert).

Der Karneval in Haiti war schon immer existenzialistischer, aber auch politischer als die sexualisierten Körperparaden am Karneval von Rio oder die feierlich-traditionellen Musikumzüge von New Orleans. Jede Maskierung kommentiert andere Traumata der haitianischen Geschichte. Man sieht das deutlich an der „Chaloska“-Figur, die Eugene Lamour verkörpert. Chaloska, kurz für Charles Oskar, war ein korrupter Polizeioffizier, der Anfang des 20. Jahrhunderts ein Massaker an Gefängnisinsassen befahl und selbst Häftlinge tötete, woraufhin er von der wütenden Bevölkerung gelyncht wurde. Lamour trägt einen napoleonischen Zweispitz als Kopfbedeckung, sein Mund ist hinter einem monströsen Gebiss verborgen. Es sind monströs wirkende Stierzähne, die er bleckt. Zusammen mit dem übergroßen Anzug, der von gezackten Fantasiestreifenmustern geschmückt ist, in dem er steckt, wird er zum Freak. Chaloska tritt meist im Verbund mit anderen Figuren auf, mit „Master Richard“, einem Wohlhabenden, der die Justiz mit Bündeln von Papiergeld besticht, und dem Gefängnisarzt „Dr. Calypso“, der gefälschte Bulletins von Armen und Gefängnisinsassen erstellt.

Die basisdemokratische Kultur des Karnevals war über Jahrzehnte Schutzraum vor dem Horror der Diktatur und ist noch immer ein Ort für den spielerischen Umgang mit dem Erbe der Sklaverei. Am 23. August jährt sich der Aufstand gegen die Sklavenhalter zum 219. Mal.