Letzter Dampfer in den Westen

13 Ostberliner flohen 1962 mit einem Ausflugsschiff über die Spree. Die Regisseurin Inga Wolfram hat die Flüchtlinge 44 Jahre später aufgetrieben und aus der Geschichte einen Fernsehfilm gemacht

Der Kapitän schläft immer an Bord und ist der SED zugetan. Aber auch dem Alkohol

VON JAN STERNBERG

In den Westen ist es nur eine Drehung mit dem Steuerrad nach Backbord und zwei Minuten Fahrt bei voller Kraft voraus. Die Schleuse zum Landwehrkanal am südlichen Ufer gehört bereits zu Kreuzberg. Am frühen Morgen des 8. Juni 1962 peitschen deswegen Schüsse über die Spree. DDR-Grenzer feuern von den Stegen gegenüber dem Osthafen und von Patrouillenbooten auf die unter wehender Hammer-und-Zirkel-Flagge dahintuckernde „MS Friedrich Wolf“. Der nagelneue, schneeweiße Ausflugsdampfer ist das stolze Flaggschiff der Ost-Berliner Weißen Flotte und hält Kurs auf Westberlin.

Die „Friedrich Wolf“ ist entführt worden. Von 13 Leuten, zwischen 19 und 20 Jahren alt, die eine günstige Gelegenheit nutzten, in den Westen zu fliehen. Das Schiff sollte an diesem Morgen am Osthafen Transformatoren laden. Im Grenzgebiet, zwischen zwei Sektoren. Dafür hat sie eine Genehmigung.

Peter Currle und Peter Warszewski stehen auf dem Führerstand der „Friedrich Wolf“, den sie mit Eisenplatten verbarrikadiert haben. Sie ziehen das Schiff nach Backbord. Im Unterdeck wirft sich Schiffskoch Jörg Lindner schützend über seinen sechs Monate alten Sohn, Uwe-Jens. Von hinten nähert sich das Patrouillenboot, die Grenzer versuchen, die „Friedrich Wolf“ über das Heck zu entern. Am Ufer tauchen West-Berliner Polizisten auf. Sie schießen zurück. Die Grenzer drehen ab. Die Flucht ist geglückt.

„Tollkühnes Husarenstück“, schreiben die Boulevardblätter am nächsten Tag. „Das war zu verwegen“, sagt Jörg Lindner heute. „Das können nur junge Leute machen.“ „Wenn wir im Voraus Angst gehabt hätten, wären wir gar nicht erst losgefahren“, sagt Peter Currle, damals 19-jährig und der Bootsmann der „Friedrich Wolf“. „Ich wundere mich immer noch, dass das alles so geklappt hat.“

Die Berliner Regisseurin Inga Wolfram hat die Flüchtlinge 44 Jahre später aufgetrieben. Uwe-Jens Lindner – damals als Baby an Bord – arbeitet heute beim WDR, er hatte sie auf die Idee gebracht. Der Film „Letzte Ausfahrt West-Berlin“ ist ein Dokudrama, das Interviews und Spielszenen miteinander verbindet. Er läuft heute Abend in der ARD.

„Die waren nicht politisch“, sagt Regisseurin Wolfram. „Die wollten nur diese Mauer nicht mehr haben.“ Auch Peter Curle wollte nicht eingemauert leben. Er musste außerdem im Herbst 1962 mit seiner Einberufung in die NVA rechnen. Über den Stacheldrahtverhau, der nach dem 13. August aufgebaut wurde, konnten in den ersten Tagen noch viele hinüberspringen. „Da dachte ich, entweder der Zaun ist nach ein paar Wochen wieder weg oder du springst auch rüber“, erzählt Peter Warszewski. Doch die Grenzsperren wurden immer höher, springen ging nicht mehr. Blieb die Spree. „Die waren naiv, dass sie sich so etwas getraut haben“, sagt der Potsdamer Schauspieler Dirk Talaga, der in den dramatisierten Szenen Warszewski spielt.

Auch die Ostberlinerin Christel Schiller war eine der Flüchtlinge. Ihr Bruder war noch vor dem Mauerbau nach West-Berlin gezogen und informierte die Polizei, dass eine Flucht über das Wasser geplant war. In einer Nachtaktion versuchen Schiller, Warszewski und vier andere, das kleine Ausflugsschiff „Horrido“ kurzzuschließen. Doch sie bekommen die Maschine nicht in Gang. „Das war im Nachhinein auch gut so“, sagt Christel Schiller mit der Abgeklärtheit nach 44 Jahren. „Das kleine Ding hätten sie uns komplett zerschossen.“

Der zweite Versuch, sechs Wochen später: die Kaperung der „Friedrich Wolf“. Das Problem: Kapitän Paul Scholz schläft immer an Bord und ist der SED sehr zugetan. Ebenso aber auch dem Alkohol. Bei einer improvisierten Bordparty füllen die jungen Leute den Käpt’n nach allen Regeln der Kunst ab, der drückt Jörg Lindner sogar noch die Schiffsschlüssel in die Hand.

Die Flüchtlinge waren nicht politisch. Sie wollten nur nicht eingemauert leben

„Wenn schon, dann gleich mit dem größten Schiff rüber“, sagt Warszewski lachend. Er ist zur Vorstellung des Films aus Spanien angereist, wo er als Bauunternehmer arbeitete. Seit dieser Woche lebt er wieder in seiner Heimatstadt Berlin. Warszewski trägt Monogramm auf der Brusttasche seines Hemdes und hatte schon damals Sinn für Effekt: „Das war ganz geschickt, mit wehender Fahne rüberzufahren. Das hat die Grenzer für ein paar Sekunden verwirrt. Aber eigentlich hätten wir ein Schild an die Reling hängen müssen, darüber haben wir nachgedacht: Letzter Dampfer nach West-Berlin.“

Die „Friedrich Wolf“ war in der Tat das erste und letzte Schiff, mit dem eine Flucht über die Spree gelang. Nach der spektakulären Aktion durften die Mannschaften der Weißen Flotte nicht mehr unter der Elsenbrücke hindurch in den Osthafen einfahren. Kapitän Paul Scholz, in den Spielszenen dargestellt von Horst Krause, fährt das Schiff nach Treptow zurück. Er wird zur Frachtschifffahrt auf der Elbe degradiert. „Es tut mir heute noch leid, dass ich Paules Vertrauen missbraucht habe“, sagt Lindner.

Er arbeitet heute als Geschichtsprofessor in Schweden.

Peter Currle heiratete nach Metz in Frankreich und war lange Jahre Fernfahrer. „Nach der Ankunft sind wir alle unsere Wege gegangen“, meint Warszewski. „Wir waren ja keine eingeschworene Gemeinschaft.“

„Letzte Ausfahrt West-Berlin“, heute, 23.05 Uhr, ARD