Wer ist Jan Fitschen?

Völlig überraschend wird der Wattenscheider in Göteborg Europameister über 10.000 Meter. Vergleiche mit Dieter Baumann wehrt der Physikstudent allerdings vehement ab

GÖTEBORG taz ■ Ab und zu ein Bierchen, dagegen hat Jan Fitschen nichts einzuwenden. Und Dienstagnacht gönnte er sich sogar eins mehr, als für seinen schmalen Körper gut war. Das unterscheidet ihn von Dieter Baumann, dem Mann, mit dem der Wattenscheider gar nicht verglichen werden will. Doch der Vergleich drängt sich auf – immerhin ist Fitschen der erste deutsche Langstreckenläufer nach Baumann, der international auf sich aufmerksam macht. Mit einem sensationellen Schlussspurt eroberte der 29-Jährige im Göteborger Ullevi-Stadion völlig überraschend den Europameister-Titel über 10.000 Meter.

Während die deutschen Fans auf einen glücklichen Wurf von Hammerwerferin Betty Heidler warteten, rannte Fitschen eine Runde nach der anderen, mittendrin im Feld, unscheinbar und unbemerkt. Erst auf den letzten 400 Metern fällt er plötzlich auf, arbeitet sich Schritt für Schritt an das Spitzentrio heran – und spurtet an allen vorbei. Er steigert seine Bestleistung um knapp neun Sekunden auf 28:10,94 Minuten und lässt die beiden spanischen Favoriten José Manuel Martinez (28:12,06) und Juan de la Ossa (28:13,73) auf der Zielgeraden stehen. Und als der blonde Läufer strahlend seine Ehrenrunde absolviert, reibt sich so mancher Zuschauer verwundert die Augen und fragt: Wer ist Jan Fitschen?

Jan Fitschen ist immerhin elfmaliger Deutscher Meister. Aber bislang teilte er das Los vieler europäischer Läufer: Er trat international kaum in Erscheinung. Nur ein einziges Mal geriet er in die Schlagzeilen: 2001 hatte er sich für die Hallen-WM in Lissabon qualifiziert, erhielt vom Leichtathletik-Weltverband aber keine Startgenehmigung, weil er zuvor bei den Deutschen Meisterschaften gegen den damals international gesperrten Dieter Baumann angetreten war. „Dieter hat damals eben sein Ding gemacht“, sagt Fitschen heute, ganz nüchtern, ohne Groll.

Jetzt ist er an der Reihe, sein Ding zu machen. Mit einer anderen Trainings- und Lebensphilosophie als Baumann, wie er betont. Aber mit einer ähnlichen Sprintfähigkeit. Der Physikstudent sagt: „Ich bin nicht der neue Dieter Baumann, ich bin Jan Fitschen.“ Nur diese Fähigkeit, der Konkurrenz auf den letzten Metern zu enteilen, hätten die beiden Ausnahmeläufer gemeinsam, sagt Fitschens Trainer Tonno Kirschbaum. Baumann hat das bei seinem Olympiasieg 1992 in Barcelona über 5000 Meter eindrucksvoll bewiesen, und Fitschen nutzte in Göteborg die Gunst der Stunde. „Das war ein perfektes Rennen für mich“, sagt er. Während er „immer gleichmäßig im Feld mitgerollt“ sei, hätten sich die Spanier bei Tempowechseln verausgabt.

Am Morgen nach dem Triumph habe sich dann sein Bett gedreht, erzählt Jan Fitschen. Und auch seine Gedanken wollten nicht so recht zur Ruhe kommen. Eigentlich hatte er geplant, jetzt mit seiner Freundin Heike Urlaub zu machen und sich dann „endlich mal“ um sein Studium zu kümmern. In der Vorbereitung war er viereinhalb Monate in Trainingslagern, davon 13 Wochen in der Höhe – in dieser Zeit kamen sowohl die Freundin als auch das Studium etwas zu kurz. Doch plötzlich geraten die Pläne Jan Fitschens durcheinander. Denn so viel scheint mit dieser Goldmedaille möglich zu sein: Geld verdienen bei internationalen Meetings, die persönliche Bestzeit noch ein bisschen runterdrücken – und vielleicht sogar mal bei einer Weltmeisterschaft ins Rampenlicht sprinten.

SUSANNE ROHLFING