Was ist Stolz, was Würde?

Post aus Nahost (11): Iman Humaidan Junis hat sich mit anderen Intellektuellen getroffen – und wundert sich sehr

Neun Frauen trafen sich bei der Versammlung, die meine Freundin Maha, eine Soziologin, gestern einberufen hat: fünf Professorinnen, zwei Schriftstellerinnen, eine Malerin und die Wissenschaftlerin. Sie lud uns in ihr Haus, „um über die Situation zu sprechen“, wie sie es nannte. In Beirut treffen sich die Leute derzeit gerne in Häusern. Früher trafen wir uns in Cafés, aber davon gibt es momentan in Beirut nur noch zwei Sorten: die geschlossenen Cafés wie Starbuck’s oder die geöffneten, wo es aber immer voll und verqualmt ist.

Eine der Frauen sagte dann, dass Nasrallah den Leuten aus dem Süden ein Gefühl von Stolz und Würde wiedergegeben hätte.

Wenn ich den Garten von Sanajeh besuche, kann ich immer spüren, dass die Stimmung unter den Flüchtlingen ganz anders ist als bei den Vertreibungen von 1996 oder 1993 oder, viele Jahre früher, 1982. Diesmal fühlt sich die schiitische Bevölkerungsgruppe, als kämpfe sie für den ganzen Libanon, und dass ihnen die Libanesen dafür etwas schulden: Gastfreundschaft und Versorgung mit all den Dingen, die sie täglich brauchen. Das erklärt, warum die Flüchtlinge so standhaft einen starken Willen beweisen, obwohl manche doch alles verloren haben, ihre Häuser, vielleicht sogar ihre Familien.

Ich weiß, dass mir der Anblick von Kinderleichen unter Trümmern nicht das leiseste Gefühl der Würde verleiht, sondern ein Gefühl der Scham, der Wut, der Ungerechtigkeit. Vielleicht sollten wir uns also erst einmal über diese Begriffe unterhalten und auf ihren Sinn einigen.

Ich fragte also die Professorin, ob sie wirklich meine, dass die Hisbollah den Stolz und die Würde der Leute aus dem Süden des Landes oder Beirut gerettet habe. An beiden Orten gibt es nicht die geringste Infrastruktur zum Schutz von Zivilisten, keine Bunker oder andere unterirdische Verstecke – ein Umstand, auf den immerhin die Tötung von 1.300 Menschen und die Flucht einer Million anderer zurückzuführen ist. Die Professorin sagte, Bunker fielen in die Verantwortlichkeit des Staates, Nasrallah sei also kein Vorwurf zu machen.

Diese Frauen, die ich gestern Morgen getroffen habe, zählten in den Siebzigerjahren noch zu den Linken im Libanon. Nasrallah wird immer populärer unter Leuten mit vormals linkem oder panarabischem Hintergrund – wovor die Gegner der Hisbollah die Augen verschließen.

Jeden Tag verübt Israel neue Massaker an Zivilisten. Wird es eine Zukunft geben, in der unser Stolz und unsere Würde vom Tod entkoppelt sind? Die meisten Menschen hier wollen einfach nur in Frieden leben. Aber welchen Frieden wollen die Libanesen? Das ist noch ein Wort, über das wir uns verständigen müssen.

Iman Humaidan Junis (Beirut) schreibt im Wechsel mit Ron Kehrman (Haifa) aus dem Kriegsgebiet. Aus dem Englischen von Arno Frank