: Diesmal geht es um die Wurst
AUS BERLIN BARBARA BOLLWAHN
Ob er Blut sehen kann, wurde er gefragt, und ob er belastbar ist. Beide Fragen beantwortete er mit einem Ja. Damit war er im Rennen. Zuvor hatte er bereits die ersten Hürden genommen. Er hat einen erweiterten Hauptschulabschluss und keine unentschuldigten Fehlzeiten in seinem Zeugnis. Keine Selbstverständlichkeit heutzutage. Wie es auch nicht selbstverständlich ist, eine Lehrstelle zu finden. Denis ist 18 Jahre alt. Im August 2005 hat er die Schule beendet. Seit zwei Jahren ist er auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz.
Es ist Viertel nach fünf am Montagmorgen dieser Woche. Der junge Mann mit dem gestutzten Irokesenstreifen auf dem Kopf, dem silbernen Ring im linken Ohr und der winzigen abgebrochenen Ecke an den Schneidezähnen ist etwas nervös. Er steht vor einem Verbrauchermarkt in Berlin-Pankow und raucht in der kühlen Morgenluft eine Zigarette. Um vier ist er aufgestanden und von Panketal, einer Gemeinde am nordöstlichen Stadtrand von Berlin, mit seinem Vater im Auto in die Stadt gefahren.
Eigentlich muss er erst um sechs Uhr bei der Kiezmarkt GmbH in der Neumannstraße sein. Doch sein Vater will pünktlich bei der Arbeit sein, und so ist Denis eine Dreiviertelstunde zu früh dran. „Eine Lehrstelle ist sehr wichtig. Man will auch beweisen, dass man was drauf hat.“
Es ist das erste Mal, dass die Kiezmarkt GmbH einen Fleischer ausbilden will. 32 Mitarbeiter hat der Verbrauchermarkt, hinter dem eine wechselvolle Geschichte liegt: DDR-Lebensmittelgeschäft, Eurospar, Intermarché, dann betrieb ihn die Einzelhandelsfirma als privaten Spar und seit Juli dieses Jahres als Edeka. Nur hat sich bisher kein Jugendlicher gefunden, der dort Fleischer werden will. Deshalb bekam Denis ein so genanntes Schnupperpraktikum angeboten. Zwei Tage lang kann er dem Fleischer über die Schulter gucken, um herauszufinden, ob das ein Beruf für ihn wäre. Und die Firma kann sich ein Bild davon machen, ob Denis Einsatz, Geschick und Interesse zeigt.
Der Fleischerberuf ist Denis nicht völlig fremd. Seine Mutter hat diesen Beruf gelernt. Doch wegen einer Allergie kann sie ihn nicht ausüben, verpackt stattdessen auf 400 Eurobasis CDs in einer Fabrik. Denis macht zurzeit den gleichen Job. So ist er beschäftigt und verdient eigenes Geld.
Denis gehört zu den 271.000 Jugendlichen, die dieses Jahr noch ohne Lehrstelle sind. Im Juli 2004 haben die Bundesregierung und die Spitzenverbände der Wirtschaft für die Dauer von drei Jahren einen „Nationalen Pakt für Ausbildung“ geschlossen.
Nach monatelangem Tauziehen haben die Wirtschaftsverbände versprochen, jährlich 30.000 neue Ausbildungsplätze zu schaffen. Doch seit Oktober 2005 bis Ende Juli dieses Jahres wurden der Bundesagentur für Arbeit 402.400 Ausbildungsstellen gemeldet. Das ist ein Prozent weniger als im Vorjahr. Dafür haben sich mit 678.500 Jugendlichen ein Prozent mehr bei ihrer Suche an die Bundesagentur gewandt.
Die freie Lehrstelle im Kiezmarkt hat Denis zusammen mit seiner Mutter im Internet gefunden. Seine Eltern haben sich vor einiger Zeit einen Internetanschluss zugelegt. Nicht, um billige Flüge zu buchen, sondern um sich auf die virtuelle Lehrstellensuche in ganz Deutschland zu begeben. Etwa 100 Bewerbungen hat Denis geschrieben. Weil er gerne bastelt und sich für Technik interessiert, wollte er Industriemechaniker werden, wie sein älterer Bruder. Oder Kfz-Mechaniker, Schiffsbaumechaniker, Elektroniker. In Wiesbaden, Bremen, Hamburg, Berlin. Doch nur zu fünf Vorstellungsgesprächen wurde er eingeladen. Das überrascht nicht. Ein Hauptschüler mit einem Notendurchschnitt von 2,9, einer 5 in Mathe und einer 4 in Deutsch hat wenig Chancen, zumal sich immer mehr Abiturienten auf Lehrstellen bewerben. Deshalb konnte sich Denis auch vorstellen, Koch zu werden. Oder eben Fleischer. Hauptsache, eine Lehrstelle.
Fünf Minuten vor sechs erscheint Andreas Wich, der Abteilungsleiter für Fleisch, Wurst und Käse. Er ist 43, ein zupackender Mann mit Brille, Halbglatze und Doppelkinn, Fleischer-Wurstfingern und einem stattlichen Bauch unter der blauen Schürze. Mit einem lauten „Moin, moin“ begrüßt er Denis und führt ihn über den Hof zum Hintereingang. Vorbei am Aufenthaltsraum, wo zwei Frauen eine Geburtstagstorte aus Klopapierrollen mit einem Sparschwein für eine Kollegin vorbereiten. Die Filialleiterin wirft ihm ein fröhliches „Hallo, guten Morgen“ zu. Andreas Wich drückt ihm eine Schürze in die Hand und fasst kurz und knapp zusammen, worauf es ankommt. „Man darf sich vor nichts ekeln, muss alles probieren können und darf kein Vegetarier sein.“ Denis nickt zustimmend und bindet sich die Schürze um.
Andreas Wich fragt ihn, ob er schon einmal mit Fleisch zu tun hatte. Denis erzählt von einem Dreisternehotel in Stuttgart, wo er bis Anfang dieses Jahres ein dreimonatiges Praktikum absolviert hat, sogar eine Zusage zu einem Ausbildungsvertrag als Koch bekam. Der Preis war ihm allerdings zu hoch. Er habe bis 14 Stunden täglich arbeiten müssen und sich als billige Arbeitskraft gefühlt. Auch im Kiezmarkt muss zugepackt werden, macht Andreas Wich ihm klar. Für viele Worte bleibt keine Zeit. In einem Satz erklärt er die Schlachterei. „Tisch, Säge, Ofen, Gewürzregal, Kühlraum für Wurst, Kühlraum für Fleisch.“
Ihm ist es lieber, Denis legt gleich los. Schweine werden im Kiezmarkt nicht geschlachtet, das Fleisch wird von der Supermarktkette Reichelt geliefert und zu Schnitzeln, Rouladen, Gehacktem und Grilltaschen verarbeitet. Jeden Montagmorgen wird die Fleischtheke neu aufgefüllt. Es gibt viel zu tun, der Supermarkt öffnet um sieben.
Bereitwillig folgt Denis den Anweisungen und wäscht sich erst einmal die Hände. Wenige Minuten später steht er an der Fleischsägemaschine und schneidet halb ängstlich, halb beherzt Koteletts, so wie es ihm Abteilungsleiter Wich gezeigt hat. Er schabt das Knochenmehl ab, legt die Scheiben auf ein Tablett, wäscht sich wieder die Hände, trägt die Koteletts heraus zur Fleischtheke. Aufmerksam hört er Andreas Wich zu, seinen Erklärungen zu Schnitzelfleisch, Lachsfleisch, Tafelspitz, Hüfte, Kugel, Unterschale und Oberschale. Neugierig schaut er zu, wie er mit einem Messer Rindersteaks von der Mittelsehne befreit. Gewissenhaft schneidet er Schweinefleisch in dünne Scheiben und flechtet jeweils drei zu einem Zopf, zu so genannten Grillzöpfen. Als Andreas Wich ein Dutzend ordentlich geflochtene Fleischzöpfe vor sich sieht, ist er voll des Lobes. „Wie aus dem Bilderbuch, super.“ Auch beim Zubereiten von Cordon Bleu stellt sich Denis geschickt an. „Einwandfrei“, lobt er.
„Wir suchen händeringend einen Lehrling“, sagt Andreas Wich. Dass die Schulabgänger nicht Schlange stehen, überrascht ihn kaum. Der Fleischerberuf gilt als unattraktiv. „Die Arbeitszeit liegt nicht jedem. Die Bezahlung ist auch nicht wie bei einem Bankkaufmann und man macht sich die Finger schmutzig.“ Wich hat seine Ausbildung 1979 bis 1981 in Thüringen gemacht. Eine Lehrstelle musste er damals nicht suchen. Sein Vater kam mit einem Arbeitsvertrag nach Hause, den er nur noch unterschreiben sollte. „Ich habe mich früher nicht mit dem Beruf identifiziert“, sagt er. „Aber jetzt bin ich froh.“
Endlich am Ziel zu sein – das hatte Denis vor zwei Wochen auch gedacht. Er war bei der Berliner Stadtreinigung, wo sein Vater als Fahrer arbeitet, zu einem Bewerbungstest eingeladen gewesen. Dort war kurzfristig eine bereits vergebene Lehrstelle als Industriemechaniker frei geworden. Er war zuversichtlich nach der einstündigen Prüfung. „Das ist meine letzte Chance“, sagte er. Die Tage zuvor hatte er sich im Internet schnell noch einiges angelesen über Mathematik und etwas Grundwissen Politik. Er wollte es nicht vermasseln. „Die vielen Absagen sind drückend.“
Er hat den Einstellungstest nicht bestanden. Am Telefon erfuhr er, dass er weit unter der notwendigen Punktezahl lag. „Ich hätte mich in der Schule mehr anstrengen sollen“, sagt er mit kleinlauter Stimme. „Im Nachhinein sieht man klarer.“ Auf die fünfzig Lehrstellen bei der Stadtreinigung als Kraftfahrzeugmechatroniker, Industriemechaniker, Kaufmann für Bürokommunikation und Fachkraft im Gastgewerbe haben sich 1.700 Jugendliche beworben. 911 wurden zum Test eingeladen, nur 180 haben ihn erfolgreich absolviert.
Der Abteilungsleiter für Fleisch, Wurst und Käse ist sehr zufrieden mit Denis. Schon nach wenigen Stunden hält Wich den rechten Daumen nach oben. „Er hat denkbar beste Voraussetzungen“, sagt er. „Er war einige Zeit in einer Hotelküche, seine Mutter ist Fleischerin und er isst alles außer Schmorgurken, wie ich.“ Auch Denis haben die zwei Tage gefallen. „Es war ganz gut. Der Fleischer hat gesagt, er würde mich sofort nehmen.“
Doch er ist nicht der Einzige, der sich für diese Lehrstelle interessiert. Vor ihm hat ein anderer Jugendlicher ein Schnupperpraktikum gemacht und nach ihm wird noch eine Schülerin zur Probe kommen. Für wen sich der Chef entscheidet, der derzeit im Urlaub ist, wird Denis nächste Woche erfahren. „Wenn es klappt“, sagt er, wäre es super. „Mit einer Lehrstelle könnte ich mein Leben auf eine gerade Bahn lenken.“ Und wenn nicht? „Das wäre Mist.“
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