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„Beispiellose Instabilität“

Der Fachkräftemangel trifft Ostdeutschland besonders hart

Burkart Lutz

■ 85, ist Professor für Soziologe mit Schwerpunkt Industriesoziologie. 1990 wurde er Mitbegründer und Forschungsdirektor des Zentrums für Sozialforschung Halle.

taz: Herr Lutz, Sie haben den Fachkräftemangel in Ostdeutschland am Beispiel der Metall- und Elektroindustrie untersucht. Wie stellt sich die Situation dar?

Burkart Lutz: Ostdeutschland hat anderthalb Jahrzehnte lang einen extremen Überschuss an Nachwuchskräften erlebt, diese Zeit geht zu Ende. Die geburtenstarken Jahrgänge haben die Schule verlassen, die Schülerzahlen sind – wegen des massiven Rückgangs der Geburten nach der Wende – deutlich und schneller rückläufig als im Westen. Gleichzeitig haben wir zum ersten Mal seit den frühen 1990er Jahren auch einen größeren Abstrom von Erwerbstätigen in die Rente. Das ist eine beispiellose Form der Instabilität, die durchaus zu einer zweiten Deindustrialisierungswelle führen kann.

Sind die Arbeitgeber darauf vorbereitet?

Ein viel zu geringer Teil. Die zum Teil sehr rudimentären Kompetenzen in der Personalakquise in Ostdeutschland liegen zum einen daran, dass man sich auf der komfortablen Situation des Nachwuchsüberschusses ausruhen konnte. Zum anderen daran, dass wir in Ostdeutschland anders als in Westdeutschland in der hochtechnisierten Industrieproduktion sehr viel mehr Kleinbetriebe haben.

Dürfen die Arbeitnehmer wegen des Fachkräftemangels auf höhere Löhne hoffen?

Da bin ich mir nicht so sicher, auch in den Gewerkschaften werden die kommenden Entwicklungen nicht mehr so positiv gesehen. Die Betriebe werden in individueller Konkurrenz versuchen, Arbeitnehmer abzuwerben. Es droht eine Verwilderung der Lohnpolitik, auch weil im Osten die disziplinierende Wirkung von Flächentarifverträgen leider nicht sehr ausgeprägt ist. Einzelne, neue Mitarbeiter, auf die das Unternehmen angewiesen ist, können vielleicht wesentlich höhere Löhne aushandeln. Ich würde aber nicht ausschließen, dass das voll auf Kosten der älteren Stammbelegschaft geht.

Gibt es Trends im Osten, die auch den Westen erwarten?

Ostdeutschland macht uns vor, was passiert, wenn das Gebärverhalten nicht mehr Ausdruck biologischer Zwänge, sondern freiwilliger Entscheidung oder gesellschaftlicher Strömungen ist. Das ist ein bedeutender säkularer gesellschaftlicher Bruch. Wir bekommen Geburtenzahlen, die es so früher nicht gegeben hat. Wir haben aber sehr wenig Erfahrung mit der Instabilität der Nachwuchsjahrgänge. In Ostdeutschland bieten sich also Lerngelegenheiten von unschätzbarem Wert. INTERVIEW: EVA VÖLPEL

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