Arme Kinder müssen ohne Bücher lernen

In manchen Schulen hat jedes zehnte Kind kein Geld für Unterrichtsmaterial. Die Städte sehen sich vor eine moralische Entscheidung gestellt: Zahlen oder nicht zahlen? Kritiker befürchten eine „pädagogisch fatale Situation“

DÜSSELDORF taz ■ Zum Start des neuen Schuljahres kommen Kinder von Arbeitslosengeld-II-Beziehern zum Teil ohne Bücher in den Unterricht. An einzelnen Schulen kann sich jedes zehnte Kind keine neuen Bücher leisten. Jetzt sieht man in manchen Kommunen Anlass zum Handeln. Der Oberbürgermeister der Stadt Köln, Fritz Schramma (CDU), zum Beispiel hat eine Dringlichkeitsentscheidung für die Ratssitzung am 29. August angekündigt.

„Die Verwaltungsvorlage sieht vor, dass die Stadt das Büchergeld für ALG-II-Empfänger übernimmt“, sagt Hans-Werner Neulen, stellvertretender Leiter des Schulverwaltungsamtes. Bei der SPD-Ratsfraktion stößt der Vorstoß des OB auf Verwunderung: „Das freut uns, aber es überrascht uns auch. Vor den Sommerferien hat er noch gesagt, das Büchergeld sei nicht finanzierbar“, sagt SPD-Fraktionsvorsitzender Martin Börschel.

Zahlen oder nicht zahlen – diese Frage muss die Stadt Köln genau wie alle anderen Kommunen in NRW selbst beantworten. Die Städte sehen sich dabei zum Teil „vor moralisch nicht vertretbare Entscheidungen“ gestellt, schreibt der Oberbürgermeister der Stadt Bottrop, Peter Noetzel (SPD), in einem Brief an die grüne Landtagsfraktion: „Welche Kinder und Jugendliche sollen unterstützt werden und welche nicht?“

Nicht alle Städte übernehmen den Elternanteil. In Essen, Oberhausen, Mönchengladbach und Leverkusen zum Beispiel müssen die Eltern den Beitrag selber aufbringen. Bildungsverbände befürchten Auswirkungen auf die Chancengleichheit. „Wenn hier nicht sofort nachgebessert wird, haben wir eine pädagogisch fatale Situation in den Schulen“, sagt Andreas Meyer-Lauber, Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).

Die Finanzierungsprobleme gehen auf das Schulgesetz der alten rot-grünen Landesregierung vom Jahr 2005 zurück. Danach sind nur Bezieher von Sozialgeld, also nicht-erwerbsfähige Menschen, von der Zuzahlung zu Lernmitteln befreit. Übergangsweise galt dies auch für Kinder von ALG-II-Empfängern, die vorher in der Sozialhilfe waren. Diese Übergangslösung ist Mitte des Jahres ausgelaufen. Eine Nachfolgeregelung gibt es nicht.

„Die Zuständigkeit liegt bei den Kommunen“, sagt Andrej Priboschek, Sprecher des NRW-Schulministeriums. Eine Regelung, nach der das Land mit einspringt, sei nach Gesprächen mit den Kommunen gescheitert.

Einige Städte wie Essen würden den Elternanteil gerne zahlen, aber weil sie in einem Nothaushalt sind, dürfen sie gesetzlich keine zusätzlichen, freiwilligen Zahlungen übernehmen. „Wir haben bei der Bezirksregierung angefragt und keine Erlaubnis erhalten“, sagt Rüdiger Kersten vom Geschäftsbereich Jugend, Bildung und Kultur der Stadt Essen. Darunter leiden müssen 9.000 Essener Schüler.

Der Rat der Stadt Oberhausen hat trotz leerer Kasse kürzlich beschlossen, die Bücher für die 8.000 betroffenen Schüler zu bezahlen. Dafür gerügt hat die Aufsichtsbehörde die Stadt bislang noch nicht. „Es kann sein, dass der Ratsbeschluss von der Bezirksregierung beanstandet wird. Das muss aber nicht sein“, sagt Pressesprecher Ralf Terlau. Um der Chancengleichheit und Fairness willen, habe der Rat diesen Beschluss gefasst. „Es kann nicht sein, dass Kinder in strukturärmeren Städten benachteiligt werden“, so Terlau. Dafür nimmt die Stadt Kosten zwischen 190.000 bis 210.000 Euro in Kauf. Der Anteil, den Eltern für Schulbücher pro Schüler tragen müssen, liegt – je nach Schulform – bei 18 bis 49 Euro.

N. EL MOUSSAOUI/ K. HEIMEIER