Dirigent im Kasten

WASSERBALL Bei der Wasserball-Europameisterschaft wird Altmeister Alexander Tchigir einmal mehr das deutsche Tor hüten. Seine internationale Karriere begann der heute 41-Jährige als Auswahlkeeper der Sowjetunion

Der Erfinder des offensiven Torwartspiels im Wasserball wurde zum neunten Mal für eine Europameisterschaft nominiert

VON TORSTEN HASELBAUER

Alexander Tchigir ist der beste Wasserballtorhüter aller Zeiten. Doch wie lässt sich so ein „Überirdischer“, wie ihn der deutsche Nationaltrainer Hagen Stamm erst kürzlich wieder bezeichnete, überhaupt beschreiben? Am besten wohl mit Zahlen und Bildern, die sich in den vergangenen zwanzig Jahren tief in das Wasserballgedächtnis eingegraben haben. Zum Beispiel, wie der heute 41-jährige Tchigir vor rund zehn Jahren damit begann, einen ganz großen Satz aus seinem drei Meter breiten und neunzig Zentimeter hohen Tor zu machen, um dem gegnerischen Center den Ball wegzuschnappen.

Das war die völlige Neuinterpretation der Torwartrolle im Wasserball, die der 1,91 Meter große Keeper da so erfolgreich demonstrierte. Ein Modell der Zukunft. Denn es dauerte nicht lang, da kopierten sämtliche Wasserballtorhüter dieser Welt Tchigirs Offensivstrategie. „Seitdem gibt es im Wasserball den spielenden Torwart“, erklärt dazu der Erfinder selbst.

Tchigir hat den Status des Torwarts kräftig aufgewertet. Früher stellten die Trainer nur die Aktiven ins Tor, die schlecht schwimmen konnten, aber dafür ziemlich groß waren. Seit rund zehn Jahren aber ist der mobile Keeper in der harten Sportart ein gleichwertiger Teil der Mannschaft. Vielleicht ist er sogar noch ein wenig wichtiger als all die anderen Spieler im Becken.

Bei Tchigir ist das kaum zu überhören. Durch seine Erfahrung ist er blitzschnell in der Lage, die Stärken und Schwächen des Gegners zu erkennen und die Abwehr lautstark zu dirigieren „Ich schreie nicht, ich helfe“, meint Tchigir. Die Torwartperspektive veranlasst den Nationaltorhüter sogar, das taktische Konzept des Teams eigenmächtig zu verändern. Nicht immer zur Freude von Auswahltrainer Hagen Stamm, der anderen Wasserballlegende, die es in Deutschland gibt.

„Stamm steht am Beckenrand, ich im Wasser im Tor“, sagt Tchigir. Mehr nicht. Am Ende aber raufen die beiden sich wieder zusammen. Das war schon immer so „und daran wird sich auch jetzt bei der Europameisterschaft nichts ändern“, ist Tchigir vor dem Turnier, das am Sonntag in Zagreb beginnt, überzeugt.

Im Jahr 1995 verließ der Wasserballer Russland. „Die Modernisierung des Landes ging mir nicht schnell genug voran“, erklärt Tchigir, der neben dem Sport im Autobusiness aktiv ist. Seine Handlungsmotive, die Heimat zu verlassen, waren „eindeutig politisch“. Darauf besteht der in Moskau geborene Modellathlet. Sportlich gesehen gab es auch wirklich keinen Grund, mit seiner Familie in Deutschland noch einmal neu anzufangen.

Und da sind wir endlich bei den unglaublichen Zahlen, die Tchigir für sich verbuchen kann. Noch für die Sowjetunion gewann er 1991 bei der Europameisterschaft die Bronzemedaille. Ein Jahr später für die GUS zu den Olympischen Spielen in Barcelona reichte es wieder zum dritten Rang. Bei der Weltmeisterschaft 1994 geb es für Tchigir abermals Bronze – für einen Staat, der sich inzwischen Russland nannte. Insgesamt 367 Länderspiele absolvierte der Diplom-Sportlehrer für einen Verband, der unter der Fahne dreier Staaten antrat. Dass er heute, fast zwanzig Jahre nach diesen Erfolgen, noch immer zu den weltbesten Torhütern zählt, führt er auf die russische Torwartschule zurück. Als „hart, aber ohne Qualen“ beschreibt Tchigir seine Moskauer Lehrjahre.

Seit 1997 besitzt Tchigir die deutsche Staatsangehörigkeit. Er steht im Tor des deutschen Dauermeisters Wasserfreunde Spandau und hat bisher 315 Spiele für die deutsche Nationalmannschaft absolviert. Tchigir spielt und spielt. Was ihm in all den Jahren nie abhandenkam, sind sein exzellentes Reaktionsvermögen, seine Angstfreiheit, sein Ehrgeiz, seine starken Beine und die unendlich große Kraft, mit seinem Oberkörper so lange über Wasser zu bleiben wie kein anderer. „Alles richtig“, sagt Tchigir, wenn man ihm das alles nacheinander aufzählt. Erst vor zwei Wochen hat er erfahren, dass Hagen Stamm ihn als ersten Torwart für die Europameisterschaft in Zagreb nominiert hat. Es wird seine neunte sein.