HERMANN-JOSEF TENHAGEN HAUSHALTSGELD
: Kreditrahmenlos in Seattle

Schlangen vor der Obdachlosenunterkunft, keine Gäste bei einem Jazzkonzert für zehn Dollar – im Nordwesten der USA ist die Wirtschaftskrise noch nicht zu Ende. Die Banken verdienen daran immer noch

Vierzig Leute stehen an der Skid Road in Downtown Seattle Schlange. Schwarze, Weiße, Latinos und Asiaten. Sie haben an diesem Sonntagabend keine Unterkunft und hoffen auf Hilfe, etwas zu essen, ein Bett. Skid Road – Rutschstraße – nennen Einheimische die Straße, die eigentlich Yesler Way heißt. Vor 100 Jahren ließ man hier die geschlagenen Bäume den Berg hinunterrutschen zum Hafen. Heute rutschen die Existenzen.

Eine Meile weiter im Norden spielen die Sax Attacks, ein neu formiertes Jazz Quintett von Fünfzigjährigen, vor genau acht Leuten im Tulas, einem der bekannteren Jazz-Clubs der Stadt. Zehn Dollar kostet der Eintritt hier in Belltown. Schon zu viel für die Einheimischen? Vier der acht Gäste kommen aus Europa, zähle ich. Zwei sind japanische Touristen.

Die Musiker müssen nicht von dem Konzert leben, sagen sie in der Pause. Sie alle haben einen anderen Brötchen-Beruf, aber sie sind natürlich enttäuscht über den leeren Saal. Der Bandleader greift schließlich zur Klarinette und spielt einen sentimentalen Benny-Goodman-Song. Von Attacke keine Spur.

Lange Schlangen und leere Säle spiegeln die schlechte wirtschaftliche Lage im Nordwesten der USA. Nicht einmal die ungewöhnlich warmen Tage Ende August helfen der Stimmung.

Die Krisenverursacher, die amerikanischen Banken, tun ihren Teil dazu, die Krise weiter zu forcieren. Das Wall Street Journal rechnet auf der Titelseite vor, dass die Geldinstitute die Kreditzinsen für die von ihnen ausgegebenen Kreditkarten im vergangenen Jahr von 13,1 Prozent auf 14,7 Prozent nach oben gesetzt haben. Gleichzeitig hätten die Banken den durchschnittlichen Kreditrahmen für neue Karten um rund 500 Dollar von 4.422 Dollar auf 3.923 Dollar beschnitten. Das heißt, neue Kunden können ihr Kreditkartenkonto künftig weniger überziehen.

Solche Kreditkartenrahmen sind für Amerikaner, was für die meisten deutschen Bankkunden der Dispo ist. 381 Millionen Kreditkartenkonten haben US-Bankkunden eingerichtet. Der Rahmen steckt ab, wie viel man sich erlauben kann, ohne mit der Bank noch einmal sprechen zu müssen. Auch wie viel noch geht, ohne von der Bank mit heftigen Strafgebühren belegt zu werden. Dafür zahlen Kunden einen hohen Preis, die Kreditkartenzinsen liegen häufig doppelt so hoch wie bei einem Ratenkredit.

Das Wall Street Journal als Hauspostille der Banker ist über die Entwicklung durchaus irritiert. Schließlich: Zinsen, die die Kunden bekommen, fallen. Hauskredite werden in den USA billiger. Nur die Belastung der großen Zahl der Kreditkartenkunden steige. Seit über zwanzig Jahren hätten die Banken bei ihren Kunden nicht mehr so zugelangt.

Auf der 2nd Street in Seattle, wo dem Tulas die Gäste fehlen, eröffnet die katholische Kirche ein neues Zentrum, das Josephinum. In Seattle boomt derzeit nur die Hilfe.

Der Autor ist Chefredakteur von Finanztest

Foto: Karsten Thielker