Herr in den eigenen vier Wänden

Der Kreuzberger Verein Ambulante Dienste sorgt dafür, dass Menschen wie Roland Walter ein selbstbestimmtes Leben führen können. 20 Stunden am Tag wird der Behinderte von Assistenten betreut. Seit den 80er-Jahren wandelte sich die Organisation von einem Umverteiler zu einem Dienstleister

Bitte schreiben Sie: „Im Pflegeheim könnte ich mich nicht so frei entfalten“

VON KIRSTEN KÜPPERS

Ein zierlicher kleiner Mann im Rollstuhl, angezogen mit Hose und fliederfarbenem Hemd, die Haare ordentlich gekämmt – das ist Roland Walter. Er sitzt im Garten im Schatten an einem Tisch mit gelber Plastiktischdecke und liest den Wissenschaftsteil der Zeitung, das Lächeln im Gesicht ist ein wenig zu breit für die Situation.

Es dauert ein bisschen. Dann fängt Roland Walter an zu reden. Man hat Mühe, ihn zu verstehen. Die Worte fallen ziemlich unartikuliert aus dem Mund, Walter wirft den Kopf nach hinten und schluckt. Bei seiner Geburt hat Roland Walter zu wenig Sauerstoff abbekommen. Dieser Umstand hat ihn zum Spastiker gemacht. Das bedeutet, dass Walter zwar Arme und Beine und den Rest seines Körpers bewegen kann, aber keine wirkliche Kontrolle über diese Bewegungen hat.

Nach einer Weile geht es besser, man hat sich an seine Aussprache gewöhnt. Roland Walter erzählt von seinen Tagen: dass er im Kino war, im neuen Film mit Jessica Alba; dass Eisbein seine Leibspeise ist; dass er gerne Ballett anguckt.

Das alles war für den 42-Jährigen nicht unbedingt vorgesehen: Keine Jessica Alba, kein Ballett und das Lieblingsessen allenfalls, wenn die Heimkantine es zufällig kocht. Denn einer wie Roland Walter müsste – so funktioniert es mit Behinderungen in dieser Gesellschaft – ins Pflegeheim – wenn er nicht von der Verwandtschaft versorgt wird.

Vom Reden hat Roland Walter Durst bekommen. Er brüllt: „Heike! Apfelsaft!“ Eine blonde Frau mittleren Alters bringt von drinnen ein Holzbrett mit einem wippenden Drahtgestell, an dem eine Porzellantasse befestigt ist. Mit Hilfe dieses Geräts kann Walter alleine Saft trinken. Es ist so, dass Roland Walter sich oft übergeben muss. Diese Anfälle sind nicht vorhersehbar. Das bedeutet, dass 20 Stunden am Tag jemand in der Nähe sein muss.

Roland Walter lebt trotzdem in seiner eigenen Wohnung, in zwei Erdgeschosszimmern, die mit religiösen Postern voll hängen, auf denen Bibelzitate vor Sonnenuntergängen abgedruckt sind. Er hat eine eigene Küche, ein Bad und einen Garten und jeden Tag bekommt er genau das Mittagessen, das er sich wünscht. In der benachbarten Kirchengemeinde leitet der Rollstuhlfahrer Kleingruppen zu Fragen der Transzendenz. Auch dass er seine Abende mit Ballett, Kino oder in der Kneipe verbringt oder manchmal einfach zu Hause vor dem Fernseher sitzt, wenn er keine Lust auf Menschen hat – das alles liegt am Verein Ambulante Dienste e. V. Roland Walter ist vor fünf Jahren von einem kleinen Dorf bei Magdeburg nach Berlin gezogen – extra wegen dieses Vereins.

Ambulante Dienste ist eine typische Kreuzberger Initiative: Der Verein residiert im zweiten Hinterhof auf der dritten Etage eines alten Fabrikgebäudes. Die Mitarbeiter tragen T-Shirts und bunte Tücher um den Hals, manche haben die Haare hennarot gefärbt. Vor 25 Jahren hat eine Gruppe behinderter und nicht behinderter Menschen den Verein gegründet.

Das Bestreben von Ambulante Dienste ist es, gegen gesellschaftliche Aussonderung und Isolierung behinderter Menschen anzugehen. Man will den Abbau aller Sondereinrichtungen und Heime erreichen, wie es in einem Faltblatt heißt. Um diesem Ziel näher zu kommen, organisiert der Verein seit Jahren Assistenzen für Behinderte. Die Assistenten übernehmen alle jene Dinge, die den Behinderten aufgrund ihrer Einschränkungen nicht möglich sind.

Anfangs, erzählt Matthias, ein bärtiger Rollstuhlfahrer, der im Versammlungsraum des Vereins sitzt und zum Vorstand gehört, habe das so ausgesehen: Ein behinderter Mensch konnte abends beim Bier in der Kneipe jemandem zurufen: „Hey, du passt zu mir! Du wirst jetzt mein Assistent!“ Und am nächsten Morgen konnte der Behinderte die Kneipenbekanntschaft auch wieder rausschmeißen, wenn er doch keine Lust auf den neuen Helfer hatte. Dem Verein ging es darum, behinderte Menschen zu Chefs zu machen. Sie sollten raus aus der Opferrolle und selbst bestimmen dürfen, wer sie umsorgt. Der Verein übernahm die Rolle des Umverteilers. Zuerst sammelte man Geld von den Krankenkassen oder Sozialämtern ein und gab dieses Geld dann den Behinderten in die Hand. Die sollten sich damit selbst ihre Helfer suchen. Es war Anfang der 80er-Jahre in Kreuzberg. Da war so etwas möglich.

Mit den Jahren sah sich der Verein gezwungen, professioneller zu werden. Inzwischen ist auch Ambulante Dienste eine Dienstleistungsagentur geworden. Die Assistenten sind jetzt beim Verein angestellt und der vermietet dieses Personal stundenweise an behinderte Menschen weiter. Finanziert wird das durch die Pflegeversicherung, das Sozialamt, die Berufsgenossenschaft, manchmal zahlt der Behinderte auch eigenes Geld dazu. Auch ist der Verein gewachsen. Rund 100 Kunden hat der Verein jetzt, er beschäftigt rund 500 Mitarbeiter.

Natürlich gibt es jede Menge Probleme – man muss nur die Mitarbeiter in der Fabriketage fragen. Der allgemeine Sparzwang laste stark auf Versicherungs- und Sozialhilfeträgern, sagen sie. Die Träger setzten den Verein und die Behinderten unter starken Kostendruck. Außerdem sei die Konkurrenz in Berlin größer geworden. Auch andere Einrichtungen böten inzwischen ähnliche Leistungen an. Aber immerhin besteht Ambulante Dienste jetzt schon 25 Jahre.

Roland Walter wirft den Kopf zur Seite und lächelt schief. Hinter ihm wirft Heike nasse Handtücher auf einen Wäscheständer. Vor knapp sechs Jahren war der Verein für Walter so etwas wie eine Rettung. Damals lebte er bei seinen Eltern in der Provinz. Die Eltern wurden älter, sie wollten früh schlafen gehen. Roland Walter war weit über 30, er wollte abends am Computer arbeiten. Auch hätte er lieber in eigenen Möbeln gewohnt, es war alles nicht einfach. „Ich würde jedem raten, nicht so lange bei den Eltern zu leben“, beschreibt Walter knapp die Lage. Die Familie suchte jahrelang nach einem Zimmer in einem Pflegeheim. Mehr als 500 Bewerbungen hat sie geschrieben, aber das einzige, was es gab, war ein Platz in einem Heim für geistig Behinderte. Das kam nicht in Frage.

Anfangs sagte der Behinderte: „Hey, du passt zu mir! Du wirst jetzt mein Assistent!“

Irgendwann drehten Fernsehjournalisten einen Dokumentarfilm über Roland Walter. Die Reportage wurde im MDR-Fernsehen ausgestrahlt und am nächsten Tag bekam Roland Walter einen Anruf aus Berlin – von einem behinderten Mann, der die Sendung gesehen hatte und Walter von dem Verein Ambulante Dienste erzählte.

Danach ging alles sehr schnell. Roland Walters Leben hat wieder an Fahrt aufgenommen. Er reiste nach Berlin, durch Zufall hat er eine schöne Erdgeschosswohnung gefunden. Er wurde gleich Kunde beim Verein. Anfangs gab es ein paar Probleme, weil der Sozialhilfeträger nicht zahlen wollte. Roland Walter, die Leute von Ambulante Dienste und einige Freunde organisierten eine Demonstration, sie zogen mit bunten Transparenten ins Bezirksamt und besetzen die Flure. Ein paar Journalisten bekamen Wind von der Sache. Die Sendung „Monitor“ wollte einen Beitrag bringen. Noch bevor der Beitrag gesendet wurde, bekam Walter Bescheid, dass der Träger doch bereit sei zu zahlen. Seither betreut ein Team von zwölf Assistenten ihn fast rund um die Uhr. Es läuft ziemlich gut.

Roland Walter ist der Chef. Er bestimmt, wer für ihn arbeitet, was gekocht wird, wann aufgeräumt wird, wann und wohin er in Urlaub fahren möchte. „Es ist ein Arbeitsverhältnis, keine Freundschaft, das darf man nicht vergessen“, sagt Roland Walter. Es ist klar: Da sind auch Unstimmigkeiten gewesen, aber er will nicht darüber sprechen. Sein Lächeln verrutscht, der Oberkörper schwankt, er sagt, er sei glücklich. Jetzt sitzt er mit einer Zeitung im Garten, Heike hat sich in die Küche verzogen.

Am Nachmittag ist er andauernd unterwegs: Er fährt mit dem Bus in die Stadt, zu den verschiedenen Gruppen, in denen er aktiv ist. Manchmal hält er auch Predigten in der Kirchengemeinde. Damit ihn die Leute verstehen, bereitet er seine Predigten als Power-Point-Präsentation auf seinem Laptop vor, eine spezielle Tastatur macht das möglich. Walter hat außerdem die Internet-Seite seiner Kirchengemeinde gestaltet.

Überhaupt sitzt Walter gerne vor dem Computer und surft im Internet. Man kann sagen, er hat eine Affinität zu den modernen Kommunikationsmedien entwickelt. Heike brät in der Küche Kartoffelpuffer und sagt: „Mit Computer hat er was weg.“ Abends nach dem Besuch schickt Roland Walter noch eine SMS: „Bitte schreiben Sie: In einem Pflegeheim könnte ich mich nicht so frei entfalten.“