Lieber Kalle,

das größte Rätsel, was Du mir aufgegeben hast, war Dein Lächeln. Du hast es souverän in allen möglichen Situationen aufgesetzt. Drückte es Überlegenheit, Mitleid, leichten Spott oder einfach Verlegenheit aus? Ich weiß es nicht. Vielleicht kam es Dir einfach unkontrolliert über die Lippen. Andererseits hatte ich immer den Eindruck, dass Du alles unter Kontrolle hast, die Finanzen wie Dich gleichermaßen.

Als wir uns vor bald 35 Jahren kennenlernten, warst Du einfach der Büro-Chef, heute bist Du Geschäftsführer und virtueller Verleger. Aber Titel waren Dir vermutlich immer egal. Du hattest sie nie nötig. Einfach, weil Du – wenn es wirklich hart auf hart kam – ohnehin am Drücker warst. Legendär Dein Spruch, gefallen nach einer dieser endlosen Debatten, bei der eine qualifizierte Mehrheit eine Deiner Ansicht nach unqualifizierte Entscheidung traf: „Es ist völlig egal, was ihr beschließt – es ist sowieso kein Geld da.“ Du sagtest es mit einem enigmatischen Mona-Lisa-Lächeln.

Was ich bei allen nervenaufreibenden Querelen, die wir hatten, Dir zugutehalte, und Du hast es bestimmt oft gehört: Ohne Dich gäbe es die taz nicht mehr. Du bist vermutlich der Einzige, von dem man das mit Fug und Recht sagen kann. Manchmal war es Verstand, manchmal Intuition oder der Kuss einer Muse. Aber Du hast – vielleicht nach Nächten der Schlaflosigkeit, die Dir die Angst vor einem Konkursverschleppungsverfahren bereitet haben mag – oft zur richtigen Zeit die richtige Idee gehabt, wie die taz zu retten war. Und hast diese Idee dann auch noch gegen vielfältigen Widerstand durchgesetzt. Du warst Experte in Betriebswirtschaft, Du wurdest zum Experten in Gruppendynamik.

Du warst uns Journalisten – ob Tickerknecht oder Chefredakteur – immer überlegen, einfach weil Du von Texten mehr verstandest als wir von Zahlen. Du konntest uns gewissermaßen kontrollieren, wir Dich letztlich nicht. Du hast uns das netterweise nie in verletzender Weise zu verstehen gegeben. Du hast die Zahlen vorgestellt. Fragen hast Du geduldig beantwortet, oft mit einem freundlichen Lächeln – ein bisschen, wie man eben mit einem Kranken umgeht.

Du warst oft überzeugt, wie die taz zu retten war und welcher Weg sie in den Ruin treiben würde. Und wenn es drauf ankam, hast Du gekämpft – notfalls mit Taktiken, die Dir, das unterstelle ich nun einfach, selbst zuwider waren. Aber ich bin mir sicher, dass es Dir letztlich nie darum ging, Kollegen abzuschießen, sondern immer um das eine hehre Ziel, um die Zukunft der taz. Dafür mussten notfalls – salopp gesagt – auch Chefredakteure über die Klinge springen. Ich war nicht der einzige. Aber bei meiner Entlassung durch den faktisch von Dir geführten Vorstand hatte ich wenigstens eine Genugtuung. Mit einem Lächeln – ob es Überlegenheit, Kränkung oder einfach Verlegenheit ausdrückte, sei dahingestellt – überreichte ich Dir einen Kugelschreiber. Du hattest vergessen, die Kündigung zu unterschreiben. Thomas Schmid

■ Thomas Schmid, Chefredaktion 1995 bis 1996