Die Hisbollah in den Köpfen

Einem der Jungen fährt der Alte durchs Haar und sagt: „Eines Tages wird auch er gegen Israel kämpfen“„Wir sind nicht hier, um die Hisbollah zu entwaffnen, sondern zu beschützen“, sagt der Polizist und lacht

AUS AITA AL-SCHAAB MARKUS BICKEL

Hassan Nasrallah sieht alles. An einer zerschossenen Häuserwand am oberen Ende der abfallenden Hauptstraße von Aita al-Schaab hängt ein riesiges Transparent mit dem Gesicht des Generalsekretärs der Hisbollah. „Großer Mann, guter Mann“, sagt ein Bewohner der kleinen Gemeinde unweit der israelischen Grenze. Er tritt aus dem Eingang des zerbombten Hauses und hebt die rechte Hand an die Stirn, als wolle er seinem Führer salutieren. An ihm vorbei fährt unterdessen eine Kolonne staubiger, voll besetzter Autos über die inzwischen von Trümmern geräumte Allee der Märtyrer Richtung Stadtzentrum.

Doch davon ist genau fünf Wochen, nach dem Beginn des Libanonkrieges nichts mehr übrig. Kein Haus entlang der abschüssigen Straße, die der große Nasrallah überblickt, blieb vom israelischen Beschuss verschont. Ein Gebäude nach dem anderen, zusammengesackt, Autos, ausgebrannt am Straßenrand, eingeknickte Strommasten.

Und selbst die wenigen Wohnhäuser, die in den Kämpfen zwischen israelischen Soldaten und Hisbollah-Milizionären nicht völlig zerstört wurden, sind gezeichnet: Faustgroße Einschusslöcher zeigen, dass es in Aita al-Schaab zum Bodenkrieg kam, zum Kampf Mann gegen Mann. Die israelische Armee hat sich nicht wie anderswo auf Bombardements aus der Luft beschränkt.

Laut schluchzen drei schwarzgekleidete Frauen, als die aus zwanzig Autos bestehende Kolonne die abfallende Straße hinunterfährt. Gemeinsam mit einem halben Dutzend Männern und mehreren Kindern stehen sie vor dem Eingang eines kleinen Lebensmittelladens. Die blaue Gauloises-Werbung über dem Geschäft hängt noch. Etwas mehr als 48 Stunden nach Beginn des Waffenstillstands verabschieden die in der Gemeinde verbliebenen oder kurz zuvor zurückgekehrten Bewohner ihre Toten. Aus kleinen Schüsseln werfen die verschleierten Frauen immer neue Ladungen Reis auf die vorbeifahrenden Autos.

Sieben Märtyrer, erzählt Abu Hassan, würden heute begraben. Männer aus Aita al-Schaab, die der „israelischen Aggression“ widerstanden hätten. Der 40-Jährige trägt ein langärmeliges Hemd. Einem der Jungen fährt er durchs Haar und sagt: „Eines Tages wird auch er gegen Israel kämpfen.“ Eine Frau mit lila Kopftuch pflichtet ihm bei: „Meine Tochter hat heute Morgen ihre Ohrringe abgesteckt, um sie dem Widerstand zu schenken. Da sehen Sie, wie sehr Nasrallah und seine Kämpfer schon von unseren Kindern verehrt werden.“ Stolz erzählt sie, dass ihr Sohn mit Freunden an Plastikpistolen den Kampf gegen israelische Soldaten übe.

Die Toten sind noch nicht begraben, schon stricken sie an neuen Legenden. Wieder neue Märtyrer, neuer Stoff für Heldensagen. Schräg gegenüber der kleinen Trauergemeinde, die Straße ein wenig abwärts, weht die gelbe Fahne mit den arabischen Schriftzeichen und dem Maschinengewehr im Wind, dem Symbol des jahrelangen Kampfes von Hisbollah-Einheiten gegen die israelischen Besatzer.

So wie der im Mai 2000 erfolgte Abzug der israelischen Truppen in kaum einer Rede von Nasrallah oder anderen Parteikadern fehlt, so dürfte auch die Verteidigung Aita al-Schaabs bald neue Mythen hervorbringen. „Am Anfang kämpfte die Hisbollah nur außerhalb des Ortes gegen die einrückenden israelischen Truppen“, erzählt Hassan, der an der Allee der Märtyrer seinen ausgebombten Friseurladen inspiziert. „Doch nach wenigen Tagen rückten die Soldaten ein und versuchten, alles zu zerstören.“ Unter einer heruntergestürzten Spanholzplatte lugt ein Friseurstuhl hervor, von der Hauswand oberhalb des nun glaslosen Fensterrahmens lächelt eine braunhaarige Schönheit herab.

Wer die Allee der Märtyrer weiter hinauffährt, rechts am großen Nasrallah-Plakat vorbei, kommt zu der Stelle, wo der Tunnel liegen soll, durch den Hisbollah-Kämpfer am 12. Juli auf israelisches Territorium vorgedrungen sind und zwei israelische Soldaten gefangen genommen haben. Die Angehörigen des Zivilschutzes winken ab – zu gefährlich. Auf Schritt und Tritt folgen die Männer in ihren grauen oder schwarzen T-Shirts nun der kleinen Schar Reportern, die inzwischen zusammengekommen ist. Gemeinsam mit Helfern aus Katar, die in leuchtend gelben Schutzwesten unterwegs sind, geht es am Nasrallah-Plakat links vorbei, eine kleine Gasse entlang und dann scharf rechts.

Hier, am südlichen Ende Aita al-Schaabs, stehen zwei Bagger und die weißen Jeeps des Hilfsteams aus Katar, dahinter eine Wüste aus Geröll, nein, eine Hügellandschaft. Ein Vater kommt einen der Hänge hinuntergestolpert, den kleinen Sohn unter den Arm geklemmt. Ein paar Schritte weiter auf dem vielleicht eine Fußballfeldhälfte großen Areal liegt eine israelische Raupe. Über ihre Karosserie haben Überlebende der Kämpfe einen roten Gebetsteppich gehängt. Einer der Helfer aus dem kleinen Golfstaat lässt sich von einem Kollegen fotografieren. Schon heute strahlt der Mythos vom erfolgreichen Kampf der Hisbollah gegen die stärkste Militärmacht der Region über die ganze arabische Halbinsel.

Dass die israelische Armee Aita al-Schaab dem Erdboden gleichgemacht hat, hängt sicherlich damit zusammen, dass Hisbollah-Kämpfer den Ort für die Entführung nutzten, die den Krieg erst ausgelöst hat. Rache als Reaktion auf einen taktischen Coup, den Nasrallah in den vergangenen Jahren immer wieder als Ziel seiner Organisation ausgab: Nur wenn es gelänge, neue israelische Soldaten gefangen zu nehmen, sagte der 46-Jährige immer wieder, könnten die noch in israelischen Gefängnissen einsitzenden drei libanesischen Gefangenen befreit werden.

Dass das Kalkül nicht aufging, scheint seine Anhänger nicht zu interessieren. „Wenn Nasrallah sagt, der Sieg wird kommen, vertrauen wir ihm“, sagt eine Frau aus der kleinen Trauergemeinde. Und auch ein Polizist, der an der Weggabelung am unteren Ende der Hauptstraße steht, lässt keinen Zweifel, dass die „Partei Gottes“ diesen Krieg gewonnen hat, ungeachtet aller Zerstörung. „Wir sind nicht hier, um die Hisbollah zu entwaffnen, sondern um sie zu beschützen“, sagt er und lacht.

Eine Einschätzung, die nicht überrascht, wenn man die Straßen des kargen Gebiets an der Grenze zu Israel entlangfährt. Überall auf der Strecke hängen die Plakate mit den Gesichtern der jungen „Märtyrer“, die im Kampf gegen die israelische Okkupation ihr Leben ließen. Kaum eine Familie gibt es hier, die während der anderthalb Jahrzehnte der israelischen „Sicherheitszone“ von 1985 bis 2000 keine Angehörigen verlor. Hilfswerke wie die schiitische Imam-Sadr-Stiftung, deren Schilder immer wieder zu sehen sind, haben ebenfalls dafür gesorgt, dass die Zivilbevölkerung sich nicht von ihren bewaffneten Kämpfern wird trennen lassen.

Kurz vor al-Bustan, an einer Stelle, wo der israelische Grenzzaun nur zweihundert Meter entfernt ist, stehen zwei weiße Jeeps mit den blauen Buchstaben UN an der Seite. Ein italienischer Angehöriger der Waffenstillstandsbeoachtungsorganisation (Untso) hält eine blaue UN-Fahne hoch, während estnische und niederländische Kollegen versuchen, etwas Benzin aus einem Tank zu zapfen.

Friedlich weht das Stück Stoff im Wind, doch angesichts der israelischen Panzer, die entlang des Grenzzauns Richtung Osten fahren und Staub aufwirbeln, wirkt die Szenerie bizarr: Vier Untso-Mitarbeiter wurden am Ende der zweiten Kriegswoche bei einem israelischen Raketenangriff getötet. Wie deren Kollegen der UNO-Übergangsstreitkräfte für den Libanon (Unifil) zur Entwaffnung der Hisbollah-Einheiten beitragen sollen, wie es die UN-Sicherheitsratsresolution 1701 fordert, ohne ins Visier der schiitischen Krieger zu geraten, ist unklar – trotz der geplanten Erhöhung der zurzeit nur knapp 2.000 Soldaten umfassenden Truppe auf bis zu 15.000 Mann.

Zumal israelische Einheiten ihre Stellungen auch nicht kampflos räumen werden, sollten sie angegriffen werden. Und das kann niemand ausschließen, nachdem Nasrallah erst am Wochenende bekräftigt hat, dass der „Widerstand“ gegen israelische Truppen so lange weiter gehe, wie diese libanesisches Territorium besetzt hielten. Neue Märtyrer stehen schon bereit.