Hässliche heile Welt

Leben können heißt schießen können. Carlos Manuel inszeniert Carl Maria von Webers Oper „Der Freischütz“ im Hof der Humboldt-Universität als Freilichttheaterspektakel in einer beklemmend-romantischen Schießbuden-Idylle

Auf dem Gehsteig der Dorotheenstraße starrt ein ausgestopfter Fuchs ins Leere. Eine Bläserkapelle in Hosenträgern und Camouflage-Hüten spielt. Unheimlich volkstümlich wird einem beim Betreten des Innenhofs der Humboldt-Universität zumute, wo das Theater an der Parkaue zum Freilichttheaterspektakel „Der Freischütz“ einlädt. Das Unbehagen will trotz Schießbudenromantik und schöner Melodien aus Carl Maria von Webers Oper nicht weichen.

Max, der vom Schusspech verfolgte Jäger, liebt die Förstertochter Agathe. Doch bevor Agathes Vater, der Erbförster Kuno, in die Heirat einwilligt, muss Max nach altem Brauch beim Probeschuss seine Treffsicherheit und Eignung als Förster und Ehemann beweisen. Sein Freund Kaspar rät ihm zum Schuss mit der magischen „Freikugel“, die Treffsicherheit garantiert. Max willigt ein, ohne zu wissen, dass Kaspar im Pakt mit Samiel, dem Bösen, steht. Der Regisseur Carlos Manuel präsentiert in seinem „Freischütz“ eine hässliche heile Welt. Drei Kulissen einer Schlosswand staffeln sich im Hintergrund, während verkehrte Holzstühle wie im Zuschauerraum die Bühne füllen. Wie im Kasperletheater lugt ab und zu ein Hase oder ein Huhn hinter den Kulissen hervor und wird sogleich von Max und Kaspar abgeschossen. Dann kann ein befreiendes „Juja, juja, gar lustig ist die Jägerei“ gesungen werden.

Sowohl der ungestüme Kaspar als auch der brave Max müssen sich in der hierarchischen Welt behaupten, in der schießen können Leben können heißt. Max trainiert wie ein guter Soldat. Kaspar ist abgebrühter. Er diente schon als Kind im Heer. Die aufkommende Schwere, unterstützt durch den altmodischen Sprachduktus und das Abspielen von Operneinlagen, wird durchgehend und gut dramaturgisch gebrochen, etwa wenn ein Schauspieler im Bärenfell hinter einem Baum durchs Megafon röhrt, ihm die Bläserkapelle mit Schießeisen hinterjagt oder wenn Agathes Freundin Ännchen als keckes Wirtstöchterchen zwischen den Stühlen übermütig, ja beinahe tollwütig herumalbert, und zwischendurch saubermacht, denn „Ordnung ist das halbe Leben“.

In der polternden Betriebsamkeit schlägt Max Agathe, und Agathe küsst Kaspar. Die Frauen werden bisweilen hysterisch, die Männer zücken die Gewehre. Es wird betrogen und getrunken, gefoltert und gesungen. Der Erbförster Kuno, der aussieht wie James-Bond-Bösewicht Blofeld, setzt dem derben Treiben immer wieder Mal ein Ende. Drohend appelliert er an die Werte. Es scheint kein Zufall, dass Kuno und Samiel vom selben Schauspieler gespielt werden.

Carlos Manuel inszeniert klug und mit strukturierter Dynamik. Im Wechselspiel von Klamauk und Tragik wird die Angst der Figuren vor ihrer eigenen Welt spürbar. Unklar bleibt, wo genau diese liegt: in fernen Ländern, in denen Krieg herrscht? In kleinen Dörfern deutscher Wälder? Unter den Linden? Am Ende siegen die Guten dieser beklemmenden Idylle. Ein ungutes Gefühl darüber bleibt.

ARIANE VON GRAFFENRIED

Nächste Vorstellungen: am 20. und vom 22. bis 27. August um 20.30 Uhr