: Die einsamen Rufer vom Alex
Die Montagsdemo lebt: Woche für Woche trifft sich ein Grüppchen Unentwegter, um gegen Hartz IV, Lohndumping und große Koalition zu protestieren. „Hauptsache, wir bleiben organisiert“, sagt einer
VON TORSTEN GELLNER
Der Mann ist aufgeregt. Er spricht heute zum ersten Mal. Er zittert so heftig, dass er sein Plakat weggeben muss, um das Mikrofon mit beiden Händen zu halten. „Wir werden von Flaschen regiert“, ruft er mit starkem Tremolo. Er fühlt sich an böse alte Zeiten erinnert: „Zwangsarbeit hatten wir 1933 schon einmal“, presst er hervor. Ein Raunen geht durch die Menge, einige nicken, andere schütteln den Kopf. Jemand quittiert die Analogie zwischen den 1-Euro-Jobbern der Hartz-IV-Ära und der Ausbeutung von Nazi-Häftlingen mit den Worten: „Heute wird man wenigstens dafür bezahlt.“
Sie demonstrieren noch immer und sie sind noch immer wütend. Jeden Montagnachmittag treffen sie sich an der Weltzeituhr: Arbeitslose, Rentner, Sozialisten, Marxistisch-Leninistische, Gewerkschaftler, Genossen und nun wieder verstärkt die Friedensbewegten. Die Montagsdemonstration ist nicht tot, in der ganzen Republik geht eine kleine, eiserne Reserve Unzufriedener Woche für Woche auf die Straße, gegen Lohndumping, Agenda 2010 und die große Koalition. 80 Leute sind heute gekommen, so viele wie immer in den letzten Wochen, Monaten. Ein Protest auf Sparflamme. Vor zwei Jahren, im Sommer 2004, demonstrierten in Berlin zwanzigtausend, bundesweit waren es Hunderttausende. Es roch nach Revolution. Für einen Moment sah es so aus, als könne man den „Raubbau am Sozialstaat“ stoppen. Aber dann kamen immer weniger zum Protestieren, und ALG 2 und 1-Euro-Jobs blieben.
Fred Schirrmacher hat nicht aufgegeben. Der Mann im T-Shirt steht auch an diesem Montag wieder im Schatten der Weltzeituhr und agitiert gegen den „offiziellen Betrug der Herren Politiker“. Seit 2003 macht er das jetzt schon. Damals ging er mit etwa 200 Mitstreitern zum ersten Mal montags auf die Straße, gegen jene Arbeitsmarktreform, die zwei Wochen später den Bundestag passierte und dann die soziale Republik umkrempelte. Unzählige Demos hat er seither angemeldet. Die Montage für 2006 sind alle gebucht.
„Wir werden wieder mehr. Die Masse ist ja nicht dumm“, glaubt Schirrmacher. Früher hatten die Leute vom Berliner Bündnis Montagsdemo einen Lkw mit Lautsprecheranlage, Bands spielten selbst gebastelte Protestsongs. Das war teuer. Ein Golf mit Anhänger löste den Lkw ab, das war billiger. Jetzt steht Schirrmacher neben seinem schwarzen Ford Scorpio und nestelt an einem fahrbaren Lautsprecher mit Mikro herum.
Das offene Mikro ist das Herzstück der Montagsdemos. Hier kanalisiert sich der Protest, hier reden sich die Frustrierten den Frust von der Seele. Ein blonder Mann um die 40 erzählt mit monotoner Stimme von der Kündigung, die ihn eine Woche zuvor ereilt hat. Er nimmt sein persönliches Schicksal zum Anlass für eine vergleichende historische Diagnose. „Ich habe früher die stalinistische Linke kritisiert“, sagt er, „und jetzt haben wir selbst so ein System, das gegen ganze Generationen arbeitet.“ Die Aufmerksamkeit der Zuhörer ist eher begrenzt. Als der Redner in seinem Exkurs „erschreckende Parallelen im Umgang mit Erwerbslosen zwischen heute und der Zeit des Naziterrors“ feststellt, bittet ihn Fred Schirrmacher, doch langsam zum Schluss zu kommen.
Fred Schirrmacher war Maurer, bis er aus einem Fenster fiel. Die Verletzungen verheilten, zurück blieb die Höhenangst. Er verlor seine Arbeit, schulte um, hatte Glück. Er fand Arbeit in einem Steuerbüro. Aber auch da wird er nur mit Missständen konfrontiert. „Bei meiner Arbeit sehe ich täglich, wie dreckig es dem Mittelstand geht.“ Leider geht der Mittelstand nicht auf die Straße. „Jeder will halt was Besseres sein, der Mittelstand besser als die Arbeiter, die Arbeiter besser als die Arbeitslosen.“
Die wenigsten der Montagsdemonstranten seien arbeitslos, meint Schirrmacher. „50 Prozent sind in Arbeit, 25 Prozent haben 1-Euro-Jobs, der Rest sind Arbeitslose und Rentner“, schätzt er. Und was treibt diese Menschen? Glauben sie wirklich, Hartz jetzt noch rückgängig machen zu können? „Wir geben die Hoffnung nicht auf“, sagt Schirrmacher nach kurzem Zögern. „Die Hauptsache ist, dass wir organisiert bleiben.“ Ein Satz, den man immer wieder hört, wenn man mit dem harten Kern der Montagsdemonstrierer spricht. Man muss vorbereitet sein, wenn sich irgendwann wieder die Massen anschließen.
Eine ältere Frau steht am offenen Mikro und redet in Richtung Weltzeituhr. Dort liegen zwei leere Kästen Sternburg-Bier und ein halbes Dutzend voller Punks. Die Frau will die „Jugend ohne Chance“ zum Protest animieren. Die Jugend rülpst. „Es ist Krieg heute, aber scheinbar erkennt das niemand“, ruft die Frau, lauter. „Mach das Mikro leiser“, brüllt ein Punk. „Israel belügt uns“, fährt die Frau unverdrossen fort. „Die Soldaten wurden nicht gekidnappt. Sie sind auf libanesischem Boden festgenommen worden.“ Es ist ein sehr offenes Mikro an diesem Montag. Irgendwann fliegt von den Punks unter der Weltzeituhr ein halbleerer Eimer mit Kartoffelsalat herüber und den Demonstranten vor die Füße.
Das offene Mikrofon sei eine ganz wichtige Sache, findet Gernot Wolfer. „Wir bringen den Leuten bei, mit einem Mikro umzugehen. Viele sind das ja nicht gewöhnt und sprechen zum ersten Mal öffentlich.“ Wolfer ist Vertrauensmann bei Siemens und gehört zum harten Kern der Montagsdemonstranten. Er ist Mitorganisator des „3. Sternmarschs gegen die Regierung“, für den er heute kräftig Werbung macht. 20.000 Teilnehmer erwartet er am 16. September. Der Tross hat sich inzwischen in Bewegung gesetzt. Heute laufen sie die kleine Runde, einmal halb um den Alex und dann zum Roten Rathaus. „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Zukunft klaut“, schallt es aus vielleicht 15 Kehlen.
Gernot Wolfer nimmt sich viel Zeit zu erklären, wie diese Leute hier ticken, was sie nach so langer Zeit immer noch auf die Straße treibt. Auch er spricht davon, dass man die Hoffnung nicht aufgeben dürfe, und davon, wie wichtig es sei, organisiert zu bleiben. Womöglich sind die Montagsdemonstrationen mittlerweile zum Selbstzweck geworden. „Es ist ja auch ganz wichtig für die Leute“, sagt Wolfer. „Viele haben hier beim Bündnis eine Aufgabe gefunden.“ Sein Blick fällt auf einen korpulenten älteren Mann, der aufmerksam die überschaubare Menge mustert, die mittlerweile am Roten Rathaus angekommen ist. An seinem Arm trägt er eine Binde mit der Aufschrift „Ordner“. Ein paar Meter weiter steht eine zerbrechliche alte Frau, auch sie ist für den geregelten Ablauf zuständig. Es gibt viele Ordner, aber kaum etwas zu ordnen. Sie nehmen ihren Job dennoch ernst. „Die treffen sich regelmäßig und besprechen, wie ihr Einsatz war, was man noch besser machen könnte“, sagt Wolfer.
Den Aufforderungen an die Passanten, sich dem Zug anzuschließen, ist trotz aller Agitationsbemühungen niemand gefolgt. Die Rathaus-Menge ist im Vergleich zur Weltzeituhr-Menge sogar etwas geschrumpft. Fred Schirrmacher gibt noch einmal das offene Mikro frei. Der Mann mit den zitternden Händen spricht wieder. Diesmal legt er das Plakat, auf dem „Aufstehen für eine menschenwürdige Zukunft“ steht, gleich beiseite, um das Mikro besser fassen zu können. Sein Gesicht ist verzerrt, seine Stimme, mit der er etwas über Heuchelei und Betrug sagt, klingt, als würde sie jeden Moment versagen und der Mann in Tränen ausbrechen. Mühsam ringt er sich seine Sätze ab, man kann ihm nicht folgen, aber irgendwie ist allen klar, was er ausdrücken will. Als ihm am Ende die Menge applaudiert, sieht er für einen Moment glücklich aus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen