Letzte Weinlese im Languedoc

AUS DEM LANGUEDOC-ROUSSILLON DOROTHEA HAHN

Carcassonne, Avignon, Béziers, Nîmes. Stéphane Auzolle hat in fast allen Städten der Region demonstriert. War mit 10.000 und mehr wütenden Kollegen gemeinsam auf der Straße. Hat schwarze Särge mit der Aufschrift „Hier ruht der letzte Winzer“ getragen. Auf leere Fässer getrommelt. Den Regionalpräsidenten in Montpellier um Hilfe angefleht. Der Regierung in Paris und der EU-Kommission in Brüssel gedroht: „Wir kommen zu euch hoch.“ Und Verständnis für jene Winzer entwickelt, die mit vermummtem Gesicht die Ventile von Tanklastern öffnen und tausende Liter spanischen Wein in die Kanalisation laufen lassen. Die Barrikaden an Grenzübergängen bauen. Und die Lagerhallen von Weinhändlern in Brand stecken, die sie verdächtigen, Billigweine zu importieren. „Das ist pure Verzweiflung“, erklärt Stéphane Auzolle die Aktionen seiner vermummten Kollegen, „die müssen Familien ernähren. Und schaffen es nicht mehr.“

Genutzt hat alles nichts. Weder die Demonstrationen noch die Kommandooperationen. Die französische Nachfrage nach Wein ist immer weiter geschrumpft. Zusätzliche Weine aus Europa und der „neuen Welt“ sind auf den Markt gekommen. Und Jahr für Jahr sind die Preise gepurzelt. Schon 2004 haben die Winzer im Languedoc-Roussillon für ihren Wein 30 Prozent weniger bekommen als im Vorjahr. 2005 kamen noch einmal 30 Prozent Einnahmeverluste hinzu. „Man hat uns im Stich gelassen“, seufzt der 31-jährige Stéphane Auzolle. Er betrachtet sich als Opfer der Globalisierung.

In Portel-des-Corbières südwestlich von Narbonne hat der Sommer heiß und trocken begonnen. Auf den Rebstöcken reifen besonders würzige Trauben. Mit etwas Glück wird der 2006er-Jahrgang ein Jahrhundertwein. Auf jeden Fall wird er für viele Winzer im Ort der letzte sein. Sobald sie ihre roten und weißen Trauben in den großen Fässern der Kooperative Rocbère abgeliefert haben, werden sie damit beginnen, ihre Weinstöcke auszureißen. Werden die EU-Prämien für die Stilllegung kassieren. Und werden sich eine andere Arbeit zum Leben suchen. Allenfalls kleine Flächen wollen sie noch behalten. Nicht mehr zum Broterwerb. Nur als Feierabendbeschäftigung.

Wie ein sattgrünes Polster überziehen Rebstöcke die sanft gewellte Landschaft zwischen Pyrenäen und Rhône. Im Languedoc-Roussillon wächst seit der Zeit der Römer Wein. Heute produzieren 31.000 Winzer auf 400.000 Hektar Land alljährlich mehr als 15 Millionen Hektoliter Wein in der Region. 15 Millionen Mal 100 Liter. Das ist viel weniger als noch vor einem Jahrzehnt. Aber immer noch sehr viel mehr, als jedes andere zusammenhängende Weingebiet produziert – von Chile über Kalifornien und Südafrika bis nach Südaustralien.

EU will mehr Importwein

Die Menge ist Teil des Problems. Das Stichwort „Überproduktion“ bestimmt heute die europäische Debatte über den Wein. Wie einst bei der Butter. Wegen dieser „Überproduktion“ überlegt die EU, in den nächsten fünf Jahren europaweit 400.000 Hektar Anbauflächen stillzulegen. Außerdem will sie die Subventionen für Winzer abbauen und den Weinimport erleichtern. Die Flächenstilllegung soll freiwillig geschehen. Winzer, die ihre Reben ausreißen, bekommen eine Prämie und müssen sich verpflichten, nie wieder Wein auf dem Land anzubauen.

Treibstoff aus Wein

In Portel-des-Corbières sind fast alle Winzer hoch verschuldet. Über den Vorschlag der EU lachen sie bitter. „Worin besteht die Freiwilligkeit?“, fragt einer, „ich verliere Geld ab dem Moment, in dem ich morgens den Traktor anlasse.“ Die einzigen wirtschaftlich sorglosen Winzer Frankreichs sind die Hersteller von Schaumwein in der Champagne. Alle anderen haben Absatzprobleme und Einnahmerückgänge. Fast alle haben Überschussproduktion, die mit „Krisendestillationen“ zerstört wird. Dabei wird Wein zu industriell und medizinisch nutzbarem Alkohol verarbeitet. Vereinzelt – und bislang nur als Experiment – auch zu Treibstoff.

Nirgends trifft die Krise so viele und so hart wie im Languedoc-Roussillon. In der Region ist der Wein eine Sache der kleinen Leute. Anders als im benachbarten Bordelais, wo viele Winzer einen hochherrschaftlichen Lebensstil pflegen. Während Bordeaux-Weine „auf dem Schloss“ hergestellt und abgefüllt werden, liefern die Winzer im Languedoc-Roussillon ihre frischgelesenen Trauben in einer Kooperative ab. Die Kooperative erledigt alles Weitere – bis zur Vermarktung.

Die Winzerkooperativen sind das Ergebnis einer früheren Katastrophe, die die Branche getroffen hat. Ende des 19. Jahrhunderts wütete die Reblaus (Phylloxera) im Languedoc-Roussillon. Sie vernichtete den kompletten Weinbestand, und tausende Winzerfamilien verelendeten. Jene, die beim Wein blieben, probierten nach der Epidemie zwei Lösungen aus: Sie intensivierten ihre Produktion – um die erlittenen Verluste auszugleichen. Und sie gründeten Kooperativen – um das unternehmerische Risiko zu verteilen. Die Massenproduktion führte zu einer Absatzkrise und zu sozialen Revolten im Jahr 1907. Aber die Kooperativen überlebten bis heute.

Reform der Kooperative

„Trabailler a lescola an iras a la vigno“ – Entweder du lernst in der Schule, oder du endest im Weinberg. In Portel-de-Corbières haben die Älteren die Mahnung noch auf Okzitanisch gehört. Die Jüngeren auf Französisch. Um ihren Ruf und den ihres Weins aufzubessern, haben die 800 Mitglieder der örtlichen „Kooperative Rocbère“ in den vergangenen Jahren einiges unternommen. Alte Rebsorten wurden durch die hochwertigen, aber weniger ertragreichen Mourvedre und Syrah ersetzt. Die Produktionsmenge wurde um ein Drittel reduziert. Und in einer stillgelegten Gipsmine haben die Winzer ein Museum angelegt. In den kühlen unterirdischen Gängen von Terra-Vinea erzählen sie mit Schautafeln und lebensgroßen Puppen die zweitausendjährige Geschichte ihres Weins.

An eine Zukunft im Wein glauben viele Winzer trotzdem nicht mehr. „Das ist vorbei. Wie die Arbeit im Bergwerk“, sagt Jean-Jacques Castellar. Noch baut der 44-Jährige Trauben für die Herstellung von Rotwein, Weißwein und Rosé an. Noch hat er 20 Hektar Weinberg. Aber sein Geld verdient er bereits in einer Immobilienagentur. Er fühlt sich im Stich gelassen. Aus Marokko weiß er, dass an einer einzigen Weinlese „mehrere hundert Menschen“ beteiligt sind. „Solche Bedingungen kann man unmöglich mit unseren vergleichen“, schimpft Jean-Jacques Castellar, „wir müssen entweder hohe Sozialabgaben zahlen oder teure Maschinen mieten.“ Auch im nur eine Autostunde von Portel-des-Corbières entfernten Spanien stellt er Ungerechtigkeiten im globalen Weinberg fest: „Dort gilt Wein als Nahrungsmittel und genießt alle möglichen staatlichen Unterstützungen. Wir hingegen werden wie Dealer behandelt.“

Wenn im Herbst in Portel-des-Corbières die Weinstöcke ausgerissen werden, bekommen die Winzer 4.600 Euro pro Hektar AOC Corbières und 6.300 Euro pro Hektar Landwein. Um unsere Schulden zu bezahlen, wären „15.000 Euro pro Hektar“ nötig, sagt Jean-Jacques Castellar. Wie seine Kollegen ist er nicht grundsätzlich dagegen, den Weinbestand zu reduzieren: „Vorausgesetzt, es gibt tatsächlich Überproduktion.“

EU-Wein aus Finnland

So wie die Dinge laufen, befürchten die Winzer im Languedoc-Roussillon vor allem, dass 400.000 Hektar Wein, die in Europa verschwinden, sehr schnell irgendwo anders in der Welt wieder angepflanzt werden. „Worin besteht da die Marktbereinigung?“, fragen sie. Und fügen hinzu: „Wenn es nach der EU-Kommission geht, kann man künftig Trauben aus Chile nach Finnland bringen und sie dort zu finnischem Wein verarbeiten.“

Vereinzelt gibt es auch in den Weinbergen des Languedoc-Roussillon noch Optimisten. Denis Carretier, der in Olonzac den AOC Minervois herstellt, glaubt, dass die großen Händler den richtigen Weg weisen. Das Rezept lautet: ver-ein-fachen. „Die Kunden wollen heute leichte und fruchtige Weine“, meint Winzer Denis Carretier. Die „Appellationen“ und andere französische Besonderheiten bei die Weinherstellung nennt er „altmodisch, überholt und unverständlich“. Tatsächlich kommt die Konkurrenz aus der Neuen Welt längst billiger und leichtfüßiger daher. Sie hat „Markenweine“ im Labor gemixt, die jedes Jahr gleich schmecken.

Einzelne Optimisten

Die 36-jährige Sophie Noguès, eine der wenigen Frauen in der Weinherstellung im Languedoc-Roussillon, sucht ihr Überleben auf andere Art. Statt in einer Kooperative arbeitet sie allein. Sie betreut den kompletten Herstellungsprozess ihres Weins: vom Anbau auf 20 Hektar Land bis hin zum Verkauf ihrer Flaschen mit Coteaux du Languedoc in der Boutique im hinteren Teil ihres Hauses in der Ortsmitte von Sérignan. Die Winzerin hält das geplante Ausreißen von Rebstöcken für einen schweren Fehler. „Auf unserem steinigen Boden wächst sonst nichts“, sagt Sophie Noguès, „ohne Wein wird unsere Landschaft verkarsten.“

Laurent Camarena kann das nicht beeindrucken. Er war der Letzte, der sich in Portel-des-Corbières auf das Wagnis Wein eingelassen hat. Er kaufte seine 22 Hektar Land in jenem Jahr, als das Verhängnis begann. Winzer war sein Traumberuf. Er wollte in der Natur sein und Trauben wachsen sehen.

Zwei Jahre nach seiner Niederlassung hat sich der 24-Jährige für diesen Hochsommer erstmals eine „Nebenbeschäftigung“ gesucht: Bademeister. Ohne den Lohn könnte er den Schuldendienst nicht mehr bezahlen. Seine Rebstöcke hat er nach Feierabend gegen den Mehltau gespritzt. Zum voraussichtlich letzten Mal. Nach der Weinlese im September wird Laurent Camarena zumindest einen Teil seiner Rebstöcke ausreißen. „Auf dem globalen Markt“, sagt er, haben wir keine Chance.“