Giftgasmord, Operation Anfal

Wegen des Mords an 100.000 Kurden stehen Saddam Hussein und Giftgas-Ali vor Gericht

AUS ERBIL INGA ROGG

Es war ein kalter Tag Anfang März 1988, auf den Bergen um das Dorf Sedar lag noch hoher Schnee. „Sei ein braver Junge“, sagte die Mutter von Ali Hama Amin zu ihrem Sohn. „Warte mit deinem kleinen Bruder bei der Oma auf uns.“ Es sollten die letzten Worte seiner Mutter sein, an die sich Amin, heute selber Familienvater, erinnern kann. Er selbst war damals noch ein Kind, gerade neun Jahre alt. In ein paar Tagen wollte die Mutter nachkommen. Doch dazu kam es nie.

Was die Dorfbewohner damals nicht wussten und auch erst viel später erfahren sollten – das Regime von Saddam Hussein hatte in der Region die Operation „Anfal“ begonnen. Es war der Auftakt zu einem Massenmord, dem am Ende zehntausende Kurden zum Opfer fallen sollten. Erstes Ziel war das Hauptquartier der PUK im Talkessel unterhalb von Sergalu, im Nordwesten von Suleimania. Diese hatte im Schatten des Iran-Irak-Kriegs große Gebiete von Kurdistan unter ihre Kontrolle gebracht hatte.

„Es war etwa ein Uhr nachts, als die Bomben fielen“, sagt Mohammed Ali Abdulla. „Plötzlich verdunkelte sich die sternenklare Nacht, schwarze Rauchwolken senkten sich ins Tal.“ Über Stock und Stein führt er uns durch die Ruinen des ehemaligen PUK-Hauptquartiers in dem engen Talkessel unterhalb von Sergalu. Es war die Nacht vom 22. auf den 23. Februar 1988. Der Geruch verriet dem Familienvater, dass die Luftwaffe Giftgas eingesetzt hatte. Er verriegelte Türen und Fenster und zündete den Ofen an, das rettete ihm und den Bewohnern von Sergalu das Leben.

Den Plan für „Anfal“ hatte das Regime bereits im Frühjahr 1987 gefasst, und er ging weit über den Feldzug gegen die Guerilla und ihre Verbündeten hinaus. Dokumente und Tonbandaufzeichnungen, die den Kurden 1991 in die Hände fielen und später von Human Rights Watch (HRW) ausgewertet wurden, zeigen, dass das Regime bereits damals den Entschluss fasste, die Bewohner großer Landstriche zu deportieren und ihre Dörfer zu zerstören. Mit der Ausführung des Plans wurde Ali Hassan al-Madschid betraut, Vetter und als Geheimdienstchef gefürchteter Gefolgsmann von Saddam Hussein. Ausdrücklich segnete al-Madschid den Einsatz von Giftgas ab. In einer Tonaufzeichnung von 1987 höhnte er laut HRW: „Ich werde sie alle mit Giftgas umbringen! Wer wird dagegen etwas sagen? Die internationale Gemeinschaft? Scheißt auf sie!“

Giftgas-Ali, wie er im kurdischen Volksmund genannt wird, sollte mit seinem Zynismus Recht behalten. Nur ein einziges Mal, als im März 1988 in Halabdscha rund 5.000 Kurden dem Giftgas-Bombardement zum Opfer fielen, wurden Proteste laut. Zu den mehr als 40 Giftgaseinsätzen, denen während „Anfal“ hunderte Kurden zum Opfer fielen, schwieg die Staatengemeinschaft. Von Sergalu über das Jafayeti-Tal zogen die Soldaten bis Tief in den Süden Kurdistans eine Spur der Vernichtung. Am schlimmsten traf es die Bewohner südöstlich von Kirkuk.

Wie viele Kurden während „Anfal“ – so heißt die achte Sure des Koran, eine der Kriegssuren, die Muslimen Raub und Mord im Krieg gegen „Ungläubige“ erlaubt –, verschleppt und ermordet wurden, ist bis heute umstritten. HRW schätzt die Zahl auf bis zu 100.000, die Kurden gehen von 182.000 Toten aus.

Saddam Hussein und Giftgas-Ali müssen sich ab Montag im „Anfal“-Prozess wegen Völkermords verantworten, fünf weitere Angeklagte stehen wegen Kriegsverbrechen vor Gericht. Ali Hama Amin hofft, dass sie zum Tode verurteilt werden. Der alten Fatma Selim reicht das nicht. „Ich würde jeden Weg zurücklegen, wenn ich Saddam dafür eigenhändig in Stücke reißen könnte“, sagte die Alte.