piwik no script img

PLATONISCHE LIEBEDie letzte Torte

Wir haben uns nie länger als fünf Minuten unterhalten

Der Kellner sagt: „Ich habe gekündigt. Werde umziehen. Heute ist das letzte Mal, dass wir uns sehen.“ „Oh“, antworte ich überrascht. „Na dann wünsche ich dir alles Gute für dein neues Leben.“ Danach plauderten wir noch ein wenig über seinen neuen Job und die neue Stadt.

Seit ungefähr zehn Jahren radle ich nahezu jeden Samstag von Prenzlauer Berg aus in den Tiergarten. Es ist eine schöne Strecke: Die vielen Menschen in Mitte, das leere Regierungsviertel und die Stille des Waldes. Ich fahre immer an denselben Ort, trinke eine Tasse Kaffee, lese Zeitung.

Vor zwei Jahren begann besagter Kellner seine Arbeit. Er war Mitte 40, groß, breitschultrig, muskulös, trug einen Dreitagebart und hatte eine ausgesprochen tiefe, männliche Stimme. Er verliebte sich in mich. Zunächst lud er mich auf den Kaffee ein. Dann wurde aus dem Kaffee ein Cappuccino und später ein Latte macchiato mit Kuchen oder Torte. Eigentlich mag ich gar keinen Kuchen. Ich stehe nicht so auf Süßes.

Der Kellner wusste von Anfang an, dass ich keine Männer liebe. Aber das störte ihn nicht. Samstag für Samstag bekam ich von ihm Erdbeer-, Schokoladen- und Cremetorten serviert. Er erwartete keine Gegenleistung, sein unausgesprochenes Verliebtsein schmeichelte mir.

Jetzt bringt er mir meinen letzten Kuchen: Es ist eine Sachertorte. Sie ist gelungen, ich bin mittlerweile Tortenexperte geworden. Die Marmeladenschicht unter dem Schokoladenüberzug schmeckt vorzüglich. Ich werde ihn und meinen Samstagnachmittagskuchen vermissen. In diesen zwei Jahren haben wir uns nie länger als fünf Minuten miteinander unterhalten. Zum Abschied umarmen wir uns. Was für eine seltsame „5-Minuten-Tortenliebe“. Wahrscheinlich werden wir uns nie mehr sehen. Ich gehe und denke: Ab jetzt wird es keinen Kuchen mehr in meinem Leben geben.

ALEM GRABOVAC

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen