Werte für den schwierigen Schulalltag

An Berliner Schulen ist ab heute Ethikunterricht Pflicht. Das neue Fach soll Antworten auf die Probleme der Einwanderungsgesellschaft geben. Die Kirchen fürchten um ihren Einfluss, Lehrer beklagen den übereilten Start

Der Ethikunterricht darf kein politisch korrektes Low-Budget-Projekt werden

BERLIN taz ■ Ab Montag werden in Berlin 25.000 Schüler von der 7. Klasse bis zur 10. Klasse an einem „religiös und weltanschaulich neutralen“ Ethikunterricht als Pflichtfach teilnehmen. Berlin unterscheidet sich damit von fast allen anderen Bundesländern. Nur Brandenburg kennt das Pflichtfach Lebensgestaltung, Ethik und Religion (LER), ansonsten dient Ethikunterricht allenfalls als Kompensation für den Religionsunterricht.

Gegen das Pflichtfach Ethik demonstrierten und klagten in Berlin einige Eltern, aber auch die evangelische Kirche bangt um ihren Einfluss. Gemeinsam hegen die Kritiker die Befürchtung, eine atheistische Beeinflussung und der Verlust religiöser Bezüge nehme zu.

„Auch nach der Einführung des Werteunterrichts bleibt der freiwillige Religionsunterricht an der Berliner Schule erhalten. Wir alle wissen das, aber von interessierter Seite wird der Eindruck erweckt, als ob der Religionsunterricht in Berlin abgeschafft wird“, kommentiert der Präsident des Abgeordnetenhauses, Walter Momper, die Proteste und verweist auf die 50 Millionen Steuermittel, die jährlich für den Religionsunterricht an den Schulen des Landes Berlin ausgegeben werden.

„Das ist eine politische Auseinandersetzung“, sagt auch Gerhard Weil, Sprecher des Forums Ethik e. V. Vor dem Bundesverfassungsgericht hätten die Kritiker, so meint Weil, mit Klagen wohl keine Erfolgsaussichten: „In den Urteilen des Gerichts auf Klagen zum LER-Unterricht in Brandenburg wird darauf verwiesen, der Staat habe nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht einer solchen Wertebildung.“ Mit der Einführung des Ethikunterrichts soll „der religiösen Vielfalt in der Einwanderungsstadt Berlin“ und den „Wertekonflikten“ an Berliner Schulen Rechnung getragen werden, heißt es im Rahmenplan für die Sekundarstufe 1. Und weiter: „Indem die Schülerinnen und Schüler die Unterrichtsthemen aus ideengeschichtlicher Perspektive betrachten, gewinnen sie Kenntnis von anderen Lebensformen. Sie werden sich der Relativität ihrer Sichtweisen bewusst, gewinnen interkulturelle Kompetenz und erkennen grundlegende Ideen, die sich in historischer und kultureller Vielfalt spiegeln, und reflektieren sie.“

Der Ethikunterricht als Antwort auf die Bedürfnisse einer Einwanderergesellschaft? „Das Fach ist die richtige Antwort auf viele schulische Probleme“, betont der Berliner Migrationsbeauftragte Günter Piening. Leider, so kritisieren viele der Lehrer, die sich nun mit dem neuen Fach auseinandersetzen müssen, werden religionskundliche Ansätze und der interreligiöse Vergleich in dem Rahmenplan bewusst umschifft zugunsten einer allgemeinen philosophischen Betrachtung, mit der Lehrer und Schüler nur wenig anfangen können.

Der Ethikunterricht, von vielen Lehrern und Schulen gewünscht, wurde eilig eingeführt, ohne dass ein ausgereiftes Konzept dafür entwickelt worden wäre. Es fehlt an konkreten Hilfestellungen wie Unterrichtsmaterialien und Methoden. Es fehlen auch Konzepte, die an der schwierigen Alltagssituation vieler Berliner Schulen ansetzen und die hehren philosophischen Grundsätze auf diese Alltagserfahrung herunterbrechen. Die Lehrer fordern daher Ausbildung und Materialien, auf dem realistischen Niveau einer siebten Klasse, wo 80 Prozent der SchülerInnen aus Immigranten-Familien kommen. Sie fordern weniger Nietzsche, dafür mehr Auseinandersetzung mit anderen Religionen und anderen kulturellen Werten. Sie werden darin vom Forum gemeinsames Wertefach unterstützt. „Es darf kein Unterricht für Gymnasiasten werden und dahin muss auch die Ausbildung der Lehrer gehen“, betont Gerhard Weil.

Die Freie Universität Berlin hat dafür bereits interdisziplinäre Lehrerausbildungskonzepte vorgelegt. Die Forderung steht im Raum, der Ethikunterricht dürfe kein politisch korrektes Low-Budget-Fach werden, das alleine vom Engagement der Lehrer lebt.

Diese Befürchtung teilt auch das Forum Ethik e. V.: „Es wird schwer, weil die finanzielle Situation, speziell an der Berliner Schule, ohnehin nicht rosig aussieht.“ EDITH KRESTA