Gern im Abseits

Laut wird er nur, wenn er mit sich selbst unzufrieden ist. Dann schreit er: „Oh Mann!“

AUS GARDELEGEN UND SALZWEDEL KERSTIN SPECKNER

Er müsste jetzt eigentlich auf dem Platz sein und trainieren, denn bald beginnt die Fußball-WM. Im Eröffnungsspiel wird er mit der deutschen Elf gegen Japan spielen. Doch statt zu trainieren, steht Nationalspieler Ronny Kasper, Rückennummer 20, defensives Mittelfeld, an einer Wäschemangel in der „Waschbiene“ im Gewerbegebiet von Gardelegen, Sachsen-Anhalt. Nicht jeder der Mitarbeiter dort darf den Job an der Mangel machen. „Da kommt es 180 Grad heiß raus“, erklärt der schmächtige Mann souverän, „wenn man Falten in die Wäsche macht, beschweren sich die Kunden.“ Viel Spaß mache ihm die Arbeit hier nicht, aber an der Mangel werde eben ein guter Mann gebraucht, sagt er.

Ronny Kasper ist geistig behindert, wie seine Kollegen und Kolleginnen in der Wäscherei, in der er unter der Woche arbeitet. Lernbehindert oder geistig behindert sind auch alle anderen Spieler der „WM der Menschen mit Behinderung“, die am 27. August in Köln eröffnet wird. Er spricht nicht viel, murmelt nicht vor sich hin wie die Kollegin, die Schürzen bügelt. Auf Fragen antwortet er schnell und scheinbar überlegt, als wüsste er immer genau, was er sagen will. Wenn ihn jemand um Hilfe bittet, etwa beim Tischdeckenzusammenlegen, ist er sofort da. Beim Kaffeetrinken verteilt er den Kuchen, bevor jemand danach fragt.

Ganz dazuzugehören scheint er trotzdem nur in der Raucherecke hinter der Küche, wo niemand viel redet. Von dort aus sieht man die Mauer des Stadions, wo am 4. September Polen gegen Saudi-Arabien spielen wird. Alle Vorrundenspiele finden in kleinen Stadien wie diesem statt. Über den Zaun sieht man zwei Rasensprenger, vor dem Eingang pflastern Arbeiter die Zufahrt neu.

Ronny raucht viel, er weiß, dass er nicht gut ist, aber er hat schon vor fünf Jahren angefangen, mit 16. Jetzt fällt es schwer, aufzuhören. Viele im Nationalteam rauchen, das stört ihn nicht. Ihn stört jedoch, dass manche Spieler es direkt vor den Augen von Cheftrainer Willi Breuer tun. Solche Respektlosigkeit ist ihm zuwider. Es ärgert ihn auch, wenn manche Mannschaftskameraden die Sache nicht richtig ernst nehmen, sich im Training nicht genug anstrengen oder gar nicht erst erscheinen.

Ronny Kasper ist im Team ein Außenseiter. Manchmal wird er daher, wie im Trainingslager auf Mallorca, von Mitspielern geärgert. Doch mit den meisten Spielern kommt er gut klar. Ronny sei erst ein Jahr dabei und der Einzige aus den neuen Bundesländern, erklärt Cheftrainer Breuer. Ronny Kasper weiß um seine schwache Stellung in der Mannschaft, aber er kämpft – sportlich. Zu wichtig ist ihm der Fußball. Zu wichtig die WM. Zu stolz ist er, Nationalspieler zu sein.

Gern würde er mit seinem Sport Geld verdienen. In dieser WM sieht er seine Chance. Vielleicht entdeckt ihn jemand von einem Regionalligaverein. So weit hat es bislang noch keiner aus seiner Nationalmannschaft gebracht. Die Besten kicken in Kreisligavereinen. Eine eigene Liga für geistig behinderte Mannschaften gibt es nicht.

Dass die „andere Nationalmannschaft“, Jögi Löws Elf, für ihre Arbeit viel mehr Geld und Ruhm einstreicht, neidet der HSV-Fan ihr nicht. Hätte er deren Ausbildung und Förderung gehabt, wäre er ähnlich erfolgreich, erklärt der blonde junge Mann selbstsicher. Stattdessen machte er eine Ausbildung zum Hauswirtschaftsassistenten und bekommt 55 Euro wöchentliches „Taschengeld“.

Um sein Ziel zu erreichen, wolle er mehr trainieren – und vor allem härter, erklärt er ehrgeizig. Aber beim wöchentlichen Training mit Bewohnern von Lebenshilfe-Einrichtungen in Salzwedel ist das kaum möglich. Das Training ist so organisiert, dass es auch andere behinderte Spieler einschließt. Früher, als er noch bei den Pflegeeltern lebte, hatte Ronny Kasper12 Jahre lang mit nichtbehinderten Jugendlichen gekickt. „Dort wurde richtig trainiert, mit Waldlauf und allem, was dazugehört“, sagt er ernst, es klingt, als würde er diese Zeit vermissen. Zu seinen leiblichen Eltern hat er keinen Kontakt mehr. Sie melden sich nicht. Mit den Pflegeeltern, die ihn als Sechsjährigen aufnahmen, hatte er als Jugendlicher „eine Menge Ärger“, sagt er selbst. Jetzt lebt er im Wohnheim für geistig behinderte Menschen im nahen Mieste. Zweimal pro Woche trainiert er dort im Sportverein mit. Auch das reicht ihm nicht.

Seine Mitspieler in Salzwedel sind nach zwei Stunden Training am Montagabend zufrieden – und völlig erschöpft. Wenn Trainer Othmar Möllmann ihnen zwischendrin eine kurze Pause gönnt, rennen sie zu den mitgebrachten Wasserflaschen am Spielfeldrand, wischen den Schweiß aus den Gesichtern, albern herum. Ronny nicht. Er trinkt schnell einen Schluck und trainiert weiter. Er wirkt in sich gekehrt. Feindseligkeiten hat er von diesem Team nicht zu befürchten. Die anderen sind stolz auf ihn. „Ronny ist unser bester Mann“ – so der Konsens –, und als solcher wird er immer nach seiner Meinung gefragt. Obwohl er oft abwesend wirkt, weiß er dann immer sofort, worum es geht, und kann etwas zum Thema sagen. Von selbst beginnt er kaum Gespräche, weder über die neuesten Spielertransfers in der Bundesliga noch über die schwangere Elfjährige in Salzwedel, die Themen, die seine Mannschaftskollegen gerade beschäftigen.

In Gardelegen und Salzwedel kennt ihn fast jeder, er war oft in der Lokalzeitung und im Fernsehen. Besonders stolz auf Ronny Kasper ist sein Trainer Othmar Möllmann vom Behindertensportverband Sachsen-Anhalt. Darauf, dass Ronny es ins Team geschafft hat, einer aus Sachsen-Anhalt, und darauf, dass es die Landesauswahl für Fußball in Sachsen-Anhalt überhaupt gibt. Möllmann war es, der vor über einem Jahr Bundestrainer Breuer ins sachsen-anhaltische Osterburg einlud. Dort spielte Ronny – so gut, dass er im Juli 2005 ins Nationalteam aufgenommen wurde. Seitdem begleitet ihn Möllmann zu Trainingslagern ins Rheinland, manchmal ins Ausland. Meistens in seiner Freizeit. Allein kann Ronny nicht dorthin fahren. Bezahlt werden die Fahrten vom Behindertensportverband. Der zahlt auch die Reise für Trainer Möllmann. „Ich habe nur eine 40-prozentige Behinderung, darum bekomme ich keinen Ausweis, mit dem ich umsonst Bahn fahren kann wie die anderen“, sagt er. Es klingt ein wenig verärgert – und ein wenig stolz.

Er trägt gerne ein rotes T-Shirt, auf dem „Türkiye“ steht, neben Halbmond mit Stern

Wirklich gut findet er nur das Training im Nationalteam, und er verzeiht Trainer Breuer seine Härte, weil er spürt, dass er mit seinen Spielern etwas erreichen will, statt sie aufgrund ihrer Behinderung zu schonen. „Von dort nehme ich etwas mit“, sagt Kasper. Für mehr als eine Handvoll Treffen und Testspiele im Jahr hat der Behindertensportverband jedoch kein Geld, auch wenn der DFB etwas zuschießt. Vor der WM gab es einige zusätzliche Trainingslager – viel zu wenig, weiß Kasper genauso wie Trainer Breuer. Der wünscht sich Verhältnisse wie beim amtierenden Weltmeister England, wo die Mannschaft der geistig Behinderten stärker in den Fußballverband integriert ist und finanziell wie die nichtbehinderten Spieler von U 21 gefördert wird.

Ronny Kasper hat vor allen WM-Gegnern Respekt. Er weiß, er muss sich anstrengen, um zu beweisen, dass es eine gute Entscheidung war, ihn spielen zu lassen. Trainer Breuer sagt, Ronny sei „ zu introvertiert“ und müsse auf dem Platz selbstbewusster werden. Er brüllt nicht, um auf sich aufmerksam zu machen, sobald er frei steht. Oft wirkt er abwesend. Kommt der Ball jedoch in seine Nähe, ist er plötzlich hellwach, schnell und geschickt.

Laut wird er nur, wenn er mit sich selbst unzufrieden ist, wenn ein Ball danebengeht. Dann schreit er: „Oh Mann!“ – nach oben, als wolle er vermeiden, dass sich jemand auf dem Platz angesprochen fühlt. „Am Wochenende hat er einen Elfmeter verschossen, da ist er immer noch nicht drüber hinweg“, erzählt ein Vereinskamerad. Anderen gegenüber ist er nachgiebig, gibt sofort den Ball ab, wenn der Schiedsrichter so entscheidet, lamentiert nicht, beleidigt keinen, der schlechter spielt.

Der 21-Jährige scheint die Rolle im Abseits manchmal gerne und ganz bewusst zu spielen, bewusst zu provozieren und um alles in der Welt nicht dazugehören zu wollen. Zum Beispiel trägt er gerne ein knallrotes T-Shirt, auf dem „Türkiye“ steht, neben einem weißen Halbmond mit Stern. „Es gibt in Gardelegen viele Menschen, die keine Türken mögen. Dazu gehöre ich nicht“, erklärt er selbstbewusst. Damit ist das Thema für ihn erledigt. Abgeklärt spricht er über alles, was ihn selbst betrifft. Dass er jetzt öfter ins Ausland fährt und nach Berlin, das viele der Lebenshilfe-Kicker nur aus Fernsehserien kennen. Dass er selbst im Fernsehen war, Interviews gibt. Wenn die Betreuerin ihm zuruft: „Ronny, du warst gestern wieder im Fernsehen“, winkt er ab und raucht weiter, ohne aufzusehen. Er sieht kaum fern. Dass er gut Fußball spielt, ist ohnehin klar. Er sei kopfballstark wie sein Idol Lukas Podolski und zuverlässig, sagt er überzeugt. Trainer Breuer sagt das auch. Dass zur Eröffnungsfeier der WM 20.000 Leute erwartet werden, findet Kasper zwar gut, betont aber gleich, dass es ihn nicht nervös macht.

Nur als er erzählt, wie er bei der Auslosung der Gegner Ende April in Berlin Rudi Völler traf, Graciano Roccigiani und Johannes B. Kerner, bröckelt die kühle Fassade kurz. Er strahlt, ist sichtlich stolz – und hat sich gleich wieder im Griff: Damals war er eben an all das noch nicht gewöhnt. Es war sein erster Fernsehauftritt, erklärt er.