Dunkelgrüne Geschäftsreise

Bildungsurlaub mit dem Fahrrad: Die Heinrich-Böll-Stiftung nrw führt Radler zu den interessantesten Ecken des Ruhrgebiets. Ziele der Tour sind nicht nur „Leuchttürme“ wie die Essener Zeche Zollverein, sondern auch Containerdörfer für Flüchtlinge

von LUTZ DEBUS

Ein etwa fünfzigjähriger Mann kommt ins Grübeln: „Hier war ich doch schon mal. Aber damals war alles viel größer.“ Zweieinhalbgeschossige Giebelhäuser stehen ordentlich neben einander. So hatte man 1951 gebaut. Und der Herr mit dem chicen Tourenrad, der nun staunend vor den Wohnblöcken steht, verbrachte hier seine ersten Wochen als Schulkind. Seine Eltern hatten sich mit ihm und seinen Geschwistern kurz vor dem Mauerbau in den Westen abgesetzt. Für viele war das damalige Durchgangslager der erste Anlaufpunkt. Inzwischen heißt die Institution „Landesstelle Unna-Massen“ und kümmert sich nicht mehr um Zonenflüchtlinge, sondern um Asylbewerber.

Diese Szene spielte sich vor einem Jahr ab. Aber auch im diesjährigen Oktober beginnt an dem geschichtsträchtigen Ort der Fahrrad-Bildungsurlaub der Heinrich-Böll-Stiftung NRW mit dem Titel: „Erlebnispark Ruhrgebiet“. Selbsterfahrung mit dem Fahrrad – diese kleine Pointe wählt der Koordinator der Veranstaltung, Hermann Strahl, um zu beschreiben, warum diese Touren seit 1992 so beliebt sind.

Tatsächlich lässt diese Region Deutschlands nicht mal den kühlsten Hanseaten oder den bajuwarischsten Südländer kalt. Zu viele Mythen ranken sich um das Land der 1.000 Feuer. Konrad Adenauer hatte schon gesagt: „Wenn die Ruhr brennt, dann ist im Rhein nicht genug Wasser zum löschen.“ So ist neben dem Wiedererkennungswert für ehemalige und heutige Ruhris besonders die politische Bildung Akzent der Veranstaltung der grünennahen Stiftung. Man möchte dem radelnden Publikum die Chancen und Risiken des viel beschworenen Strukturwandels aufzeigen. Hermann Strahl ist als Revierliebhaber Überzeugungstäter: „Hier wurde, zumindest solange es Arbeit gab, Integrationsarbeit der alleredelsten Art geleistet.“

Aber die Tour de Ruhr zeigt auch die aktuellen Schattenseiten. Stadtteile, in denen durch den hohen Migrantenanteil kaum noch jemand wahlberechtigt ist. Demokratiefreie Zonen, spottet Strahl sarkastisch und setzt noch einen drauf: „Ich bin für die Artenvielfalt in Feuchtsoziotopen!“ Diese sei durch die fortschreitende Zerstückelung der Gesellschaft gefährdet. Hier eine Seniorensiedlung, dort eine Wohnanlage für die Mittelschicht, hier ein Containerdorf für Asylbewerber, dort ein Türkenghetto. Kontakt zwischen verschiedenen Menschen gebe es oft nur noch in Badeanstalten und auf Bowlplätzen. Aber genau zu solchen Orten werden die interessierten Radfahrer geführt. Statt in Tagungshäusern die Mahlzeiten einzunehmen, besuchen die Böll-Stifte lieber einen Wochenmarkt und decken sich mit internationalen Spezialitäten ein. Diese werden dann auf der nächstbesten Parkbank verspeist. Auch Döner-Buden werden angesteuert. Und natürlich steht auch die sonst höchstens noch in Berlin so beliebte deutsch-indische Spezialität auf dem Speiseplan: eine in Eigendarm servierte Schweinefleischzubereitung mit einer Sauce aus Tomate und östlichen Gewürzen.

Neben dem Alltag im Ruhrgebiet werden die 20 Radfahrer natürlich auch echte Sehenswürdigkeiten ansteuern. In Unna-Stockum steht der Besuch des kleinsten Bergbaumuseums der Welt auf dem Programm. Ob der Betreiber, ein ehemaliger Bergmann, einen kleinen Flöz in seine Kellermauer gemeißelt hat, bleibt bis zu jenem Tagesordnungspunkt ein Geheimnis. Auch die inzwischen begrünten Halden, die neudeutsch Landschaftsbauwerke heißen, werden besichtigt. Selbstverständlich hat das nahe gelegene Städtchen Bergkamen von den 148 Meter hohen Geröllhaufen nicht seinen Namen bekommen. Weiter westlich wird der Strukturwandel besonders plastisch. Die Zeche Hibernia ist inzwischen Stammsitz des ökologisch wertvollen Nobelmöbelhauses Manufactum. „Dunkelgrüner Kapitalismus“, scherzt Hermann Strahl. Übernachtet wird dann in dem Naturfreundehaus in Bochum. Die Naturfreunde, so Strahl, seien eine noch recht ursprüngliche Organisation. Ohne viel Luxus betreibt der Verein Übernachtungsmöglichkeiten.

In Bochum wird dann auch das Eisenbahnmuseum besucht. Hier spielen zumeist ältere Herren mit ihren elektrischen Eisenbahnen. Nur sind die Modelle nicht elektrisch, sondern dampfbetrieben und in dem stolzen Maßstab 1:1 zu bewundern. In Bochum gibt es anscheinend genug verrentete Schweißer, die sich dieses Hobby gönnen. Ein Besuch des Krupp-Hüttenwerkes in Bochum fällt leider aus. Im vergangenen Jahr hatte sich der Werkschutz noch nicht quer gestellt. Aber Fahrräder dürfen nicht aufs Werksgelände. Auf eine extra Bustour habe man verzichtet, räumt Strahl ein. Aber dafür wird die vielfältige Hochschullandschaft des Ruhrgebietes besichtigt. Unter Kaiser Wilhelm II wurde das Revier geistfrei gehalten. Der Arbeiter sollte arbeiten. In den 1960ern aber wurden viele Universitäten gegründet. Inzwischen ist die Region akademisch voll versorgt.

In Essen steht natürlich der Besuch des Weltkulturerbes „Zeche Zollverein“ an. Ob man mit dem Drahtesel auf dem Rücken die längste Rolltreppe des Universums benutzen darf? Ein Versuch wäre es wert. Vom Kasino, das nun eine öffentliche Gastronomie beherbergt, wäre, so schmunzelt Hermann Strahl, sogar Albert Speer begeistert gewesen. Etwas verschämt fügt er hinzu, dass ihn beim Anblick dieses Monuments wohliger Schauer überkommt. Aber dann siegt doch der Humor: „Hier würde doch jeder Nazi gern seinen Geburtstag feiern.“ Am Ende der Tour in Duisburg-Bruckhausen wird eine der schönsten Moscheen Deutschlands besucht.

Die Radwege, so versichert der Organisator, seien im Ruhrgebiet in einem sehr guten Zustand. Auch die Schönheit der Natur werde erfahrbar gemacht. Mancher Fremde habe sich schon gewundert, dass es an der Ruhr so grün sei. Die Industrialisierung, so Strahl, sei ja schon vor 100 Jahren Richtung Norden gezogen. Eigentlich müsste es Emschergebiet heißen. Ein weiterer Vorteil des Ballungsraumes sei es, dass im Falle eines Platzregens oder eines geplatzten Reifens die nächste S-Bahn-Station nicht weit entfernt sei. Die Region sei verkehrstechnisch gut erschlossen. Nur einen Nachteil habe dies wiederum. Man könne auf der Tour die Natur zwar sehen, riechen und schmecken, hören könne man sie nicht. Irgendwo erklingt nämlich immer das Brausen einer Autobahn.

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