Echtzeitmusik ist ein Kampfbegriff

FESTIVAL Drei Wochen lang werden die Echtzeitmusiktage in den Sophiensælen auf 20 Jahre frei improvisierter Musik in Berlin zurückschauen. Sie war in besetzten Häusern auf den Trümmern von Postpunk entstanden

Die „Berliner Schule“, das waren erratische Geräusche, fehlerhaft wirkende Sounds, schmerzhafte Stille, die das Publikum herausforderten

VON BJÖRN GOTTSTEIN

Den schönsten Eingang hatte der Club der polnischen Versager. Das Café in der Torstraße bat Konzertbesucher in einen Wandschrank, durch den hindurch man den kleinen Hinterzimmerkonzertraum betrat. Das hatte etwas Durchtriebenes, Verbotenes und Klandestines. Man betrat eine andere Welt. Aber auch der verlebte Keller des Auslands oder die knarzenden Dielen im Hinterzimmer der Kule verliehen der Musik den Charme des Verschworenen.

Es sind solche Räume gewesen, die im Nachwendeberlin einer Musik ohne festen Ort und Institution einen Rahmen gaben. Auch deshalb hat man sich nun, bei den Vorbereitungen zu den Jubiläumsfeierlichkeiten, auf „20 Jahre“ Echtzeitmusik geeinigt: 1990 wurden die Voraussetzungen geschaffen für eine andere, eine radikalere Form des Experiments. Das klingt zunächst nach jenem altvertrauten Klischee, mit der man die Dynamik der frühen Neunzigerjahre in Berlin häufig mystifiziert. Aber diese Dynamik hat in der Musik Spuren hinterlassen, die sich mit den großen Revolutionen der Musikgeschichte vergleichen lassen.

Experiment und Konzept

Das Wort Echtzeitmusik ist ein Kampfbegriff. Er ist das Resultat einer langjährigen Debatte, die den allgemeineren Begriff der „freien Improvisation“ und seine Unzulänglichkeiten zum Gegenstand hatte. Denn frei sollte diese neue Musik sein. Aber die herkömmliche Vorstellung von Improvisation, mit der einerseits die Idee formaler Schemata wie im traditionellen Jazz einherging, die andererseits das Kontingente, bloß Zufällige des Ad hoc zu implizieren schien, behagte vielen Musikern nicht.

Das hat in erster Linie etwas mit dem gleichermaßen experimentellen und konzeptuellen Ansatz zu tun, den viele der beteiligten Künstler verfolgen. Oftmals ist das Instrument, das sie sich bauen, bereits Teil des Stückes, das aufgeführt wird. Wer den Gitarristen Serge Baghdassarians einmal ohne Gitarre auf der Bühne erlebt hat, wer verfolgt hat, wie er ein Knäuel aus Effektgeräten und Mischpult mit einem gespenstisch dräuenden Klang beseelt, der versteht, dass alte Kategorien hier nicht greifen.

Ins Stocken geraten

Die Berliner Echtzeit hat einen langen, beschwerlichen Weg zurückgelegt. Die ersten Konzerte fanden Mitte der Neunzigerjahre statt und hatten ihren Ort noch in der Hausbesetzer- und Postpunk-Szene. Der Anorak wurde zu einer Anlaufstelle für all jene, die sich nicht mit der vorgesehenen Handhabung ihrer Instrumente zufrieden gaben. Das Ergebnis war eine Musik ohne Melodien, ohne Harmonien und vor allem ohne die Potenz der Dezibel. Stattdessen war diese Musik vor allem leise und geräuschhaft. Ende der Neunzigerjahre meinte man sogar einen bestimmten Sound, ein akustisches Signum diagnostizieren zu können, der damals als „Berliner Schule“ Schule machte. Die erratischen Geräusche, die fehlerhaft wirkenden Sounds, der Fokus auf Nebenaspekte des Klangs, die schmerzhafte Stille forderte das Publikum heraus.

Dass man überhaupt so etwas wie einen akustischen Kern der Echtzeitmusik benennen kann, ist erstaunlich genug. Denn die Protagonisten dieser Musik könnten unterschiedlicher nicht sein. Christoph Kurzmann zum Beispiel sang in Wien bei den More Extended Versions, bevor er das Mikrofon gegen den Laptop eintauschte und sich spröde rauschender Electronica widmete. Andrea Neumann studierte Klavier und entschloss sich dann, den Rahmen des Flügels aus dem Klavier herauszunehmen, um ohne Tasten und Resonanzkörper auf den Saiten zu spielen. Der Jazzkontrabassist Joe Williamsen wiederum geriet beim Improvisieren ins Stocken und begann in einzelne, endlos währende Töne hineinzuhorchen. Fast zwangsläufig erodierte der strenge Sound der Neunzigerjahre dann im vergangenen Jahrzehnt, griff Kurzmann auch mal eine Gesangslinie von Prince auf, fanden sich Ensembles, die mit schon fast musikantischer Lust dem Jazzstandard frönten, wandte sich der Jazzmusiker Hanno Leichtmann vertrackten Spielarten des Techno zu.

Wenn jetzt drei Wochen lang in über sechzig Konzerten Echtzeitmusik zelebriert wird, dann ist kein einheitliches Gestaltungsmoment mehr zu erwarten. Natürlich stehen das Experiment und das Geräusch nach wie vor im Mittelpunkt der akustischen Erkundungen. Aber die Medienkompositionen von Stephan Mathieu, die kraftvollen Saxofonsoli von Thomas Ankersmit und die Dronemusik von Perlonex lassen sich nurmehr historisierend auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen. Die Vielfalt und Lebendigkeit der Szene wird offenbar, wenn man die sich täglich ereignenden Improvisationskonzerte auf echtzeitmusik.de verfolgt, mit denen sich stets neue Musiker und Veranstaltungsorte behaupten. Das Genre ist längst etabliert und dennoch eine freie, dem Zement der Institutionen trotzende Einrichtung geblieben.

Eröffnet wurden die Echtzeitmusiktage am Mittwoch von Sven-Ake Johansson, Jahrgang 1943. Er hatte bereits in den Siebzigerjahren das Punkpublikum im SO36 gegen sich aufgebracht. Der Freejazzschlagzeuger hat die Verweigerungshaltung der Avantgarde lange vor der Wende verinnerlicht und mit Becken aus Schaumstoff und Werken für Autohupen oder Traktoren die Grenzen des Konzertsaals hinlänglich ignoriert. Johanssons Arbeiten und seine Kooperation mit jüngeren Musikern machen deutlich, dass die Revolution der Neunzigerjahre nicht geschichtslos ist und dass sie ihre Wurzeln im Freejazz, in der Musik von John Cage oder den Experimenten improvisierender Kollektive wie AMM hat. Sie zeigen aber auch, dass Musik ästhetische Praxis ist und dass man den Schlagzeugstock immer wieder aufs Neue in die Hand nehmen muss, um die Musik in Echtzeit zu Gehör zu bringen.

Programm unter: festival2010.echtzeitmusik.de/