Einmal der Mann vom Arbeitsamt sein

Rollenwechsel für Arbeitslose: Beim „Theater der Befreiung“ darf jeder mal den Unterdrücker spielen. Eine Oldenburger Psychologiestudentin will Erwerbslosen damit das Gefühl zurückgeben, dass sie doch noch Einfluss auf das eigene Leben nehmen können

„Ganz können wir die Probleme nicht lösen. Es geht da auch um gesellschaftliche Schieflagen.“

aus OldenburgANNEDORE BEELTE

Sein letzter Auftritt liegt schon lange zurück: In der Realschule hat Gregor in Shakespeares „Sommernachtstraum“ mitgespielt. Seine Rolle beschränkte sich mehr oder weniger auf einen Satz: „Ich bin der Mond.“ Inzwischen ist der technische Zeichner und Konstrukteur 59 und seit zehn Jahren arbeitslos. „Wie lange lebe ich noch“, hat er sich gefragt. „Und was mache ich den Rest der Zeit?“ Keine Freunde, keine Familie, die alte Werks-Bowlingmannschaft hat sich längst aufgelöst. Da bleibt nur der Fernseher. Oder eben Theater spielen.

In Rieke Mattheis‘ Theaterworkshop für Arbeitslose an der Uni Oldenburg übt Gregor nun, sich durch den Raum zu bewegen wie ein Schmetterling. Er versucht ein „Nein“ auszusprechen, das eigentlich ein „Ja“ meint, und die Bewegungen seines Vordermanns nachzuahmen wie ein Spiegel. Seine Traumrolle hat er schon gefunden: Der Mann vom Arbeitsamt. Er bindet sich den Krawattenknoten und sprudelt Schikane hervor: „Ich lade Sie zum Erdbeerenpflücken ein – für einen Euro die Stunde. Dann mache ich eine Hausdurchsuchung bei Ihnen, um herauszufinden, ob Sie in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft leben.“

Das „Theater der Befreiung“, von seinem Erfinder Augusto Boal auch „Theater der Unterdrückten“ genannt, teilt die Welt in Unterdrücker und Unterdrückte. Hier darf jeder mal den Tyrannen spielen – und feststellen, dass der auch nur ein Rädchen im Getriebe ist. Mit Hilfe eines Zahlencodes übersetzen Eingeweihte auf Zuruf Hierarchien in Körpersprache: „Plus drei“, ruft die Spielleiterin, und schon strecken alle die Brust raus, straffen die Schultern, blicken abschätzig nach unten. „Ich fühle mich gerade minus drei“ – ein Alarmsignal unter Boals Jüngern. „Im Brasilien der 60er und 70er Jahre, als die Methode entwickelt wurde, war die Gesellschaft durch Unterdrückung gekennzeichnet“, erklärt Rieke Matthei, die den Workshop im Rahmen ihrer Diplomarbeit in Psychologie anbietet. „Auf Europa ist das nicht unmittelbar übertragbar.“ Nach Boal tragen Europäer eher einen „inneren Unterdrücker“ mit sich herum. Der gebe etwa Arbeitslosen das Gefühl, nutz- und wertlos zu sein. In ihrer Diplomarbeit will Matthei erforschen, ob sich nach dem Workshop Gefühle von Depression verringert haben und die Überzeugung gewachsen ist, Einfluss auf das eigene Leben nehmen zu können. „Therapeuten sagen, dass immer mehr Arbeitslose in ihre Sprechstunden kommen“, weiß Matthei. Ihre Idee: Statt individueller Krisenhilfe einen Schritt vorher ansetzen und Arbeitslosen zu dem Erlebnis verhelfen, dass sie mit ihrem Problem nicht alleine dastehen.

Damit hat sich Gregor längst abgefunden. „Mir ist es egal, arbeitslos zu sein. In meinem Alter gibt es eh keine Hoffnung mehr auf einen Job.“ Andere arbeiten in dem Workshop an ihren Hoffnungen und Enttäuschungen. Eine Pädagogin, die hier Ute genannt werden möchte, hat einen Ein-Euro-Job im Kinderhort angetreten und stieß mit ihrer Motivation nur auf Desinteresse. Obwohl sie mit den Kindern prima klarkam, flog sie nach einer Probewoche wieder raus. In der Nach-Inszenierung ihres Vorstellungsgesprächs sitzt sie auf der anderen Seite – als „Susi Sorglos“, blutjunge Erzieherin im bauchfreien Top, stellvertretende Leiterin der Einrichtung und von ihrem Chef nur „Zaubermaus“ genannt. Irgendwie also auch eine Unterdrückte. Vom Ein-Euro-Jobber „Nico Niemand“, immerhin Diplom-Pädagoge, will sie sich bestimmt nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Der Chef, von Willi mit hinreißend komödiantischem Talent gespielt, ist ein echter Kotzbrocken: „Den lassen wir auflaufen, schlag ein!“ Und da steht Nico auch schon vor der Tür, mit hängenden Schultern in der Minus-Drei-Haltung, und wird rüde abgefertigt.

„Die Unterdrücker können wir nicht austauschen – wie im richtigen Leben“, erklärt Co-Spielleiterin Hilke Schulz. „Aber die Unterdrückten können mit ihrem Handeln das Verhalten der Unterdrücker ändern.“ Die Zuschauer dürfen das Spiel an einer beliebigen Stelle unterbrechen und eine Figur ihrer Wahl ablösen, nur eben den Unterdrücker nicht. Als „Zaubermaus“ versucht Sandra, die Szene zu einem positiven Ausgang zu bringen. Begeistert über Unterstützung, spannt sie den Ein-Euro-Jobber ein: „Einarbeitung? Das brauchen Sie doch nicht als Diplom-was-sind-Sie-noch-mal!“

So geht‘s also nicht. Uwe, der zu Anfang der Sitzung noch fand, heute sei nicht sein Tag, springt auf. Er trumpft auf in der Rolle des Nico, wedelt mit seinem Diplom und droht, sich an höherer Stelle zu beschweren. Jetzt kriegt Susi Sorglos doch kalte Füße. Der Chef sieht sich genötigt zu begründen, dass er sich wegen der dünnen Personaldecke unmöglich um den Neuen kümmern kann. Aber die Provokation schweißt beide zusammen, Nico hat wieder nichts erreicht.

„Das sind immer die ersten Verhaltensmuster: Lethargie und Aggression“, erklärt Rieke Matthei. Im nächsten Schritt geht es darum, die Nuancen dazwischen auszuloten, unerwartete Züge zu entwickeln. Matthei ist von der Methode überzeugt, seit sie in einem Workshop Lösungsstrategien erlebte, auf die sie nie selbst gekommen wäre: Ein streitendes Paar, der Mann wird gewalttätig – warum nicht als Unbeteiligte dazwischen gehen und so tun, als sei die Frau eine eben wiedergefundene alte Freundin? Schon ist der Konflikt entschärft, die Hilflosigkeit der Zuschauer in Aktion verwandelt. „Ganz können wir die Probleme nicht lösen“, wirft Sandra ein. „Schließlich geht es da auch um gesellschaftliche Schieflagen.“

Mit Gregors Auftritt hat es an dem Nachmittag nicht so geklappt, wie er sich seine Rolle vorgestellt hatte. Im entscheidenden Moment hat er wieder nur einen Satz sagen können: „Ich bin vom Arbeitsamt.“ Rieke Matthei ist trotzdem begeistert. „Dass er aufhört um sich zu kreisen, mit anderen agiert und sich nicht entmutigen lässt“, sagt sie, „ist eine riesige Leistung.“