Von wegen Spießer!

SAUBERE SACHE Dass erst Vermüllung, Hundescheiße und Gleichgültigkeit die Stadt urban machen, ist nur ein gottverdammter Mythos

■ Straßendreck: Man könnte meinen, die Berliner würden sauberer. 2012 saugten die Fahrzeuge der Stadtreinigung (BSR) 55.108 Tonnen Dreck von den Straßen und Gehwegen. In den Jahren 2011 und 2010 waren es noch jeweils über 80.000 Tonnen. Die BSR erklärt die großen Mengen allerdings mit der Witterung: Wegen des kalten Winters in diesen Jahren musste mehr Streugut weggeputzt werden musste. 2009 war der Winter nicht so hart, damals fielen auch nur rund 60.000 Tonnen Kehricht an. Mit mehr Reinlichkeit hat das also nichts zu tun.

■ Hundekot: Die BSR unterscheidet nicht zwischen Hundekot und anderem Müll auf der Straße, sagt Sprecher Sebastian Harnisch. Es sei jedoch der Eindruck der Reiniger, dass sich das Verhalten der Hundebesitzer leicht verbessert habe. Die Hundekotmenge habe in den letzten Jahren etwas abgenommen.

■ Müll to go: Vom Kaffeebecher bis zur Salatschale fällt in einer mobileren Gesellschaft auch neuer Abfall an. Wichtige Straßen werden seit Anfang des Jahres deshalb häufiger gereinigt, heißt es aus der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Die Beamten fordern eine „Schärfung des Umweltbewusstseins“. (sf)

VON CLAUDIUS PRÖSSER

Alle zwei Jahre ist Spießeralarm in Nordneukölln: Dann schwärmen die Kinder der Peter-Petersen-Grundschule tagelang mit Spraydosen aus. Nicht um Wände bunt zu machen, sondern um stinkende Tretminen zu markieren. „Attacke gegen Hundekacke“ heißt die Aktion, die den Nachbarn bewusst machen soll, wie beschissen die Gehwege hier aussehen. Unterstützt werden die kleinen Spießer durch große Spießer von den Stadtteilmüttern und anderen Kiezgruppen. Am Ende gibt’s ein Spießertreffen im Park, wo Spießerlieder abgesungen werden.

Für Menschen, die Plakate à la „Wir sind die Stadt“ kleben, muss das ein Gräuel sein. Jede Initiative, die ein bisschen Sauberkeit anstrebt, hat für sie den Ruch des Faschistischen, aus jedem noch so dezenten Hinweis auf Regeln des Zusammenlebens schnarrt ihnen der Blockwart entgegen. Im besten Falle schleudern sie den Aufräumern und Bescheidsagern ein „Das ist aber urban“ entgegen.

Sind Dreck und Rücksichtslosigkeit wirklich per se großstädtisch? Sehen wir mal genauer hin.

Beispiel Nummer eins: Niemand würde wohl ernsthaft behaupten, dass Kinder in der Stadt nichts zu suchen haben. Das wäre eine sehr rückwärtsgewandte Einstellung. Aber wer in Berlin Kinder hat, weiß, dass in manchen innerstädtischen Parks die Grashalme in der Minderheit sind gegenüber Kippen, Scherben und sonstigem Party-Fallout. Ungute Begegnungen damit vermeiden besorgte Eltern, indem sie Fernreisen zum Britzer Garten unternehmen oder den Nachwuchs vom Gerade-noch-Grün fernhalten. Um die soziale Dimension zu verdeutlichen: Es sind nicht die Wohlhabenden, die davon betroffen sind. Es ist kein Luxusproblem.

Beispiel Nummer zwei: Das Fahrrad ist die Zukunft des innerstädtischen Verkehrs, wer wollte da widersprechen. Und doch können die meisten ein Lied davon singen, wie die Rücksichtslosigkeit vieler Autofahrer ihnen das Fahren verleidet. Es wird geschnitten, gehupt, bedrängt. Und dann steht das Blech gerne mal da, wo man selbst eigentlich rollen soll. Klar, wer die Jugend und das Testosteron auf seiner Seite hat, schert elegant aus und weist dem Motorisierten mit dem Mittelfinger den Weg. Viele andere werden einfach ausgebremst. Manche lassen das Rad lieber einmal öfter stehen. Verkehrsdarwinismus halt.

Man könnte noch eine Weile so weitermachen. Und immer geht es nicht um Ordnungs- oder Regelwahn, sondern um: Rücksichtnahme.

Eine Spießertugend? Von wegen. Was, wenn nicht Rücksichtnahme, könnte als Kardinaltugend der Urbanität gelten? Eine Stadt, in der es Spaß macht, zu leben, ist doch die, in der sich möglichst viele Menschen möglichst frei entfalten können, ohne dass das auf Kosten der anderen – vor allem: der Schwächeren – geht. So betrachtet, ist es vollkommen legitim, wenn sich diejenigen zur Wehr setzen, die immer mit einem Fuß in der Scheiße stehen.

Dass Vermüllung und Egalsein die Stadt erst urban machen, ist jedenfalls ein gottverdammter Mythos. Das erschließt sich durch ein einfaches Gedankenexperiment: Nehmen wir an, Sie wären dieser Ansicht. Wenn nun vor Ihrem Haus täglich ein Kackhaufen läge und nicht bloß jeden zweiten – wäre Ihr Urbanitätsgefühl dann doppelt so stark? Nein? Und wenn umgekehrt die Kacke plötzlich ausbliebe, würden Sie sich dann plötzlich fremd fühlen in Ihrem Kiez?

Sicher, die Herausforderung besteht darin, die Balance zu halten. Die Grenze zu erspüren, wo Sauberkeit in Sterilität umschlägt und Anteilnahme in Übergriffigkeit. Man muss eben nicht jedes Graffito verteufeln – aber wenn es den Blick aus der S-Bahn unmöglich macht, ist es nicht schick, sondern einfach bloß arschig.

Kann man nicht schlicht anerkennen, dass das Ordnungsniveau in einer Stadt immer wieder neu ausgehandelt werden muss? Und dass ein Laisser-passer die Lebensqualität nicht zwangsläufig erhöht? Das wäre doch schon ein Fortschritt.

Wenn nun aber jemand unter Ordnung leidet, weil er ob seiner kleinstädtischen Herkunft ein Trauma mit sich herumträgt – nun, dafür gibt es professionelle Hilfe, auch anonyme. Gerade in einer Großstadt wie Berlin.