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Handliche kleine Hauptdarstellerin

STURM UND DRANG Im Ballhaus Naunynstraße zeigt Nurkan Erpulat das Handgemenge-Drama „Verrücktes Blut“. Wege zur ästhetischen Erziehung des Menschen, frei nach Friedrich Schiller

Gewalt als Mittel, die Verweigerungsrituale dieser als Versager Abgestempelten aufzubrechen

VON KATHARINA GRANZIN

Ist es sehr zynisch, gleich an Goebbels’ berüchtigten Satz zu denken? „Wenn ich das Wort Kultur höre, entsichere ich meinen Revolver.“ Er drängt sich ganz ungebeten auf. „Verrücktes Blut“, geschrieben von Nurkan Erpulat und Jens Hillje, ist ein ostentativ provokantes, ein sehr beunruhigendes Stück. Erpulat, der am Ballhaus Naunynstraße zunehmend in die Rolle des Starregisseurs hineinwächst, hat selbst inszeniert. Der Berliner Premiere vom Donnerstag ging eine Uraufführung auf der Ruhrtriennale voraus. Ein Novum, denn damit ist „Verrücktes Blut“ die erste große Koproduktion des Hauses. Das umfangreiche Programmheft ist auf dickem, teurem Papier gedruckt; das macht was her.

Also ist dieses rührige kleine Ballhaus Naunynstraße, das in den erst zwei Jahren seines Bestehens schon so viel dazu getan hat, die Bühne wieder näher ans Alltagsleben zu bringen, mit seinen postmigrantischen Zwischenrufen ziemlich schnell in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Und das just zu einem Zeitpunkt, da der, dessen Namen zu nennen man überhaupt keine Lust mehr hat, mit einem selbst geschriebenen Pamphlet durch die Republik tingelt, in dem es eben auch um solche geht, wie Erpulat sie hier zeigt.

Kanaksprachige Bildungsverlierer. Maulheldische Möchtegernmachos. Frauen- und schwulenfeindliche kleine Wichser. Abschaum eben. „Verrücktes Blut“ schont nichts und niemanden. Auch die Trommelfelle der Zuschauer nicht, denn es wird viel geschossen mit der Hauptdarstellerin, einer kleinen Spielzeugpistole, die auf der Bühne eine echte Waffe spielt und ohne die in diesem Stück rein gar nichts ginge. Tatsächlich geht es erst richtig los, als sie kommt. Denn zunächst will man uns glauben machen, wir bekämen eins der üblichen Dramen aus dem „Schüler machen Pädagogin fertig“-Genre geboten.

Auf allzu bekannte Weise unerträglich ist es, was da auf der Bühne vorgeführt wird, auf der eine Lehrerin (die großartige Sesede Terziyan) versucht, mit einer Gruppe lärmender Halbstarker Theaterunterricht durchzuführen. Die überwiegend männlichen Eleven bringen der Pädagogin lautstark ausgelebte Verachtung entgegen. Doch dann finden Schiller und seine Vermittlerin endlich Aufmerksamkeit, als im Handgemenge eine Waffe zu Boden fällt und die Lehrerin sie zu fassen bekommt. Fortan ist der Unterricht reine Freude. Zu Tode erschrockene Schüler kauern auf dem Boden. Zitternd befolgen sie alle Anweisungen, lesen gehorsam die Worte Schillers ab, lassen an ihrer Aussprache feilen und sich zu fragwürdigen Handlungen zwingen, die sie freiwillig niemals ausführen würden.

Denn dass der Revolver in der Hand der Lehrerin eine ernste Bedrohung darstellt, ist klar, seit sie dem Rädelsführer in die Hand geschossen hat. Normal ist das natürlich auch nicht. – Ist Gewalt zu rechtfertigen, wenn die Schüler dadurch innerlich frei werden, aus ihrer sozialen Rolle herauszutreten? Hat Gewalt nicht eine reinigende Kraft, wenn die Verwirrten durch die Identifikation mit Schillers Geschöpfen zu Momenten der Selbsterkenntnis gezwungen werden, zu Momenten, in denen sie das Textbuch vergessen und eins werden mit der Figur; in denen sie, vielleicht, begreifen, was sie sein könnten? Ist Gewalt nicht überhaupt das einzige noch mögliche Mittel, die verkrusteten Verweigerungsrituale dieser von der Gesellschaft als Versager abgestempelten Jugendlichen aufzubrechen? – Was für ungeheuerliche Fragen! Sie im Theater so furios um die Ohren gehauen zu bekommen, hat auch etwas Gewalttätiges. Aber das muss wohl so sein. So kann es niemanden mehr kaltlassen. Denn was wirken soll, das muss richtig wehtun. Ist doch so, oder etwa nicht?

■ Weitere Vorstellungen: 11.–14. 9., 20 Uhr

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