„Derzeit gibt es Pakistan im Sonderangebot“

UNTER WASSER Daniyal Mueenuddin, US-sozialisierter Schriftsteller und Farmer in Pakistan, über die Flutkatastrophe, die Krisenregion und die neuen Chancen des Westens

■ Der Autor: geboren 1963, wuchs in Lahore (Pakistan) und Elroy (Wisconsin,USA) auf. Er studierte am Dartmouth College und an der Yale Law School. Nach mehreren Jahren als Jurist in New York lebt und arbeitet er heute als Autor und Bauer auf einer Farm in Khanpur, Pakistan.

■ Sein Buch: Mit „Andere Räume, andere Träume“ (Deutsch im Suhrkamp Verlag 2010 erschienen, nominiert für den Pulitzer Prize 2010) schuf er ein fulminantes Gesellschaftsporträt Pakistans. Im Zentrum der Erzählungen steht der einflussreiche Landbesitzer K. K. Harouni, um die die acht Geschichten des Buches rotieren. Der Roman erzählt auf herausragende Weise von der Kluft zwischen Arm und Reich, Stadt und Land, Männern und Frauen sowie der zwischen den Nationen.

INTERVIEW KATHARINA GRANZIN

Der Schriftsteller Daniyal Mueenuddin, der für seinen Erzählungsband „Andere Räume, andere Träume“ dieses Jahr viel Kritikerlob erfuhr, betreibt in Pakistan eine Farm im Pandschab. Im Interview berichtet er von seinen Eindrücken aus dem Überschwemmungsgebiet und den politischen Hoffnungen, die er trotz allem an die Katastrophe knüpft

In Pakistan ist es nicht sehr klug, prominent zu sein, ohne viel Macht zu besitzen

taz: Kommen Sie jetzt gerade aus Pakistan? Daniyal Mueenuddin: Ich war kürzlich dort. Als es im Süden Pakistans losging mit der Flut, habe ich das nächste Flugzeug genommen. Gerade komme ich aus London, wo meine Frau und ich dieses Jahr leben. Wir haben ein Abkommen, dass wir abwechselnd unseren Lebensmittelpunkt bestimmen. Dieses Jahr ist London dran, danach wieder Pakistan. Sie besitzen Ländereien im Pandschab. Sind die auch von der Flut betroffen? Nein, das Wasser ist dreißig Kilometer entfernt. Dieses Mal hatten wir Glück. 1973 stand die Farm das letzte Mal unter Wasser. Das Haus war damals zehn Tage lang überflutet. Die ganze Ernte war zerstört, die Obstplantage eingegangen. Es dauerte Jahre, bis wir uns davon erholten. Und wir hatten immerhin Rücklagen. Die Menschen, die jetzt von der Flut betroffen sind, haben in der Regel keine. Es sind kleine Bauern, und ich weiß nicht, wie es ihnen jemals gelingen soll, ihre Farmen wiederaufzubauen. Im Westen begreift man den Maßstab dieser Katastrophe wahrscheinlich nicht. Sie lässt sich auch nur schlecht fotografieren. Es ist nur Wasser. Man sieht keine Toten und kann das Ausmaß nicht erfassen. Ich habe die Überflutungen vom Flugzeug aus gesehen. Es war riesig. Die überflutete Fläche hat eine Breite von sechzig oder siebzig Kilometern. Das muss man dann in der Länge mal 2.000 Kilometer nehmen. Wie hoch steht das Wasser in den überfluteten Gebieten? Mal mannshoch, mal knöcheltief. Das Gelände ist fast völlig flach. Wenn man von Lahore zu meiner Farm fährt, was neun Stunden dauert, fährt man die ganze Zeit durch eine Ebene. Sie ist flach wie ein Tisch. Das Wasser rinnt dort nicht ab und wird an einigen Stellen lange bleiben. Ich erinnere ich mich, dass ich noch 1976, drei Jahre nach der großen Flut von 1973, Enten jagen war auf einem Stück Land, das ich heute wieder als Ackerland nutze. Was können Sie zum Stand der humanitären Hilfe sagen? Die Menschen sind völlig auf sich gestellt. Normalerweise fliege ich von Lahore zu meiner Farm. Aber diesmal bin ich eigens mit dem Auto gefahren, um zu sehen, was passiert. Und? Nichts. Kein Anzeichen von staatlicher Hilfe, keine Militärfahrzeuge, einfach gar nichts. Und die Nichtregierungsorganisationen? Das Gebiet ist viel zu groß. Die NGOs sind es gewohnt, im Norden von Pakistan zu arbeiten. Nach dem Erdbeben 2005, und wegen der afghanischen Kriegsflüchtlinge, haben sie dort eine große Infrastruktur aufgebaut. In anderen Gebieten zu arbeiten, ist für Ausländer sehr schwierig. In meinem ganzen Leben habe ich nur zweimal Ausländer innerhalb eines, sagen wir, Dreißig- bis Fünfzigmeilenradius um meine Farm gesehen. Wir haben allerdings selbst eine kleine Hilfsorganisation mit Franzosen, die bei uns leben, gegründet. Für ausländische Organisationen ist es ansonsten praktisch unmöglich, in diesen Gebieten tätig zu werden. Sie müssen jetzt hier im Süden die komplette Infrastruktur aus dem Nichts aufbauen. Aber wie sollen die Betroffenen da überleben? Viele schaffen es irgendwie durch gegenseitige Hilfe. Es gibt in Pakistan das sogenannte biraderi-System des erweiterten Clans. Als ich am Rand der Flut entlangfuhr, sah ich, dass gar nicht so viele Leute dort am Ufer des Flusses campierten, wie man hätte erwarten können. Ich sprach mit einem Lokalpolitiker, der sagte: „Na ja, sie sind natürlich alle bei ihren biraderi. Sie haben sich über das ganze Land verstreut. Diejenigen, die noch hier sitzen, haben keine biraderi außerhalb des Flussgebiets.“ Und, diese Leute sind wirklich in einer verzweifelten Lage. Sie haben weder Nahrung noch sauberes Wasser, keine Medizin. Ihre Tiere sind tot, sie haben nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Es ist schockierend: Überall, wenn man entlang der Deiche fährt, campieren Menschen. Und das über tausend Meilen lang, auf beiden Seiten des Flusses. Wie kam es zur Gründung einer eigenen Hilfsorganisation? Mein Bruder, er ist Arzt, brachte vor etlichen Jahren ein Projekt von Médecins du Monde auf die Farm. Sie kümmerten sich um die gesundheitliche Versorgung und Aufklärung von Müttern und Schwangeren. Etwa zehn Jahre lang lebten sie bei uns. Dann fand ihre Zentrale, es sei Zeit, das Ganze den Einheimischen zu übergeben. Also gaben sie es einer Gruppe von Pakistanern, die sich mit dem Geld davonmachten. Das war das Ende des Projekts. Entsetzlich. Wann war das? Um die Jahrtausendwende. Heute haben wir eine kleine NGO mit ein paar Angestellten. So betreiben wir eine Schule für etwa 250 Kinder. Wir zermartern uns gerade die Köpfe, was wir in der momentanen Situation tun können. Wahrscheinlich werden wir mit Freunden verstärkt Mikrokredite vergeben und über Kontakte in New York weitere Spenden einwerben. Die Bauern, deren Felder überflutet wurden, müssen, sobald das Wasser weg ist, so schnell wie möglich die nächste Saat ausbringen. Sonst sind sie verloren. Die nächste Saat, die jetzt kommen würde, ist der Weizen. Normalerweise wird er im Oktober gesät. Wenn nötig, kann die Saat aber bis Februar aufgeschoben werden. Wir wollen die Mikrokredite vor allem an Leute geben, die wir kennen, Leute, bei denen ich weiß, ob sie sich nur mit dem Geld davonmachen wollen oder ob sie es wirklich zum Wiederaufbau verwenden. Klingt nach viel Arbeit? Wir haben auf der Farm ja bereits eine funktionierende Verwaltung für unsere NGO. Ich selbst will auch noch eine größere Reportage machen. Ich will entlang des Indus so weit wie möglich hoch in die Berge fahren. Einen oder zwei Monate unterwegs sein. Eine solche Reportage könnte im Westen für Aufmerksamkeit sorgen. Die Katastrophenhilfe bietet dem Westen die Möglichkeit, jetzt in Pakistan positiv zu intervenieren. Im Norden ist es aussichtslos. Die Menschen dort kämpfen seit zehn Jahren gegen die USA. Sie hassen alles, was von außen kommt, seit die Briten das erste Mal dorthin kamen, seit 1830 oder wann das war. Man pflegt dort eine traditionelle Feindschaft gegen alles Westliche. Das ist im Pandschab anders. Die Leute sind auch dort vordergründig antiwestlich. Aber sie haben nie irgendwelche Westler gesehen. Dort kann die Welt sich jetzt relativ günstig einen guten Ruf kaufen. Ein interessanter Gedanke. Um so mehr, wenn man bedenkt, was es kosten würde, wenn der Pandschab in zehn Jahren so geworden ist wie der Norden schon ist. Die Radikalisierung der Menschen nimmt immer mehr zu, und in der jetzigen Situation kann sich dieser Prozess enorm beschleunigen. Also: Derzeit gibt es Pakistan im Sonderangebot. Man sollte zugreifen, denn später, wenn wir die Atombombe haben, kann es sehr viel teurer werden. Sie sagen „wir“, sind aber nur zur Hälfte Pakistaner. Ihre Mutter ist US-Amerikanerin. Sie sind im Pandschab und in Wisconsin aufgewachsen. Wo haben Sie den Großteil Ihres Lebens verbracht? Der Ort, an dem ich die meiste Zeit meines Lebens verbracht habe, ist meine Farm. Dorthin kehrte ich immer wieder zurück. Wann sind Sie denn aus den USA zurückgekommen, um wieder kontinuierlich auf der Farm zu leben? Direkt nach dem College. Ich war vierundzwanzig, und es war eine sehr bewusste Entscheidung. Ich wollte auf der Farm in Ruhe Gedichte schreiben. Außerdem hatte mein Vater Probleme. Die Situation war in etwa wie jene, die in meinem Buch in der Erzählung „Versorge, versorge“ geschildert wird. Die Verwalter – einer war Mitglied des Parlaments, genau wie im Buch – waren dabei, allmählich die Farm zu übernehmen. Sie schickten meinem Vater kein Geld mehr und erzählten Geschichten von furchtbaren Ernteausfällen. Diese big sons of bitches! Offenbar nahmen sie an, dass mein Bruder und ich in den USA bleiben würden. Wer kommt schon zurück nach Pakistan! Was haben Sie dann getan? Ich habe alle gefeuert. Jeden einzelnen Mann auf der Farm, mit ganz wenigen Ausnahmen. Die Auseinandersetzung hat sechs Jahre gedauert. Diese Leute haben sehr viel Macht. Während des ganzen ersten Jahres konnte ich gar nichts tun, ich stand einfach da wie ein Kaninchen, das geblendet wird vom Licht der Scheinwerfer. Danach gingen Sie noch einmal in die USA, um Jura zu studieren? Ich wollte für Menschenrechtsorganisationen arbeiten, hatte auch kurze Zeit einen Job bei Human Rights Watch. Dort sagte man mir, wenn ich dauerhaft übernommen werden wollte, solle ich vorher Berufserfahrung in einer großen Kanzlei sammeln. Das habe ich getan – und es gehasst. Dafür merkte ich, dass das, was ich am liebsten im Leben tun möchte, das Schreiben ist. Also dachte ich, warum tust du es nicht einfach? Tu es jetzt! Mittlerweile ist Ihr erstes Buch in dreizehn Sprachen erschienen. Sie selbst wollen aber nicht, dass es ins Urduische übersetzt wird. Warum? In Pakistan ist es nicht sehr klug, prominent zu sein, ohne viel Macht zu besitzen. Auf Urdu verlegt zu werden, würde mich bekannter machen, aber nicht mächtiger. Ich möchte keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen, sondern in Ruhe mein kleines Leben führen. Die englische Version ist in Pakistan erhältlich. Das ist schon mehr als genug. Ich überlege sogar, ob ich, wenn mein nächstes Buch herauskommt, darum bitte, die Verkäufe in Pakistan zu beschränken. Es gibt zu viele Verrückte dort. Ich will nicht von irgendeinem Irren erschossen werden. Sehen andere pakistanische Autoren das ähnlich? Viele wohnen in den großen Städten, da ist es einfacher. Ich lebe sehr abgelegen auf dem Land. Sie haben Ihre Erzählungen um eine patriarchale Figur entwickelt, die von ihrem Vater inspiriert ist. Glauben Sie, es hätte ihm gefallen, was Sie schreiben? Ich glaube schon. Er schrieb ja auch selbst.