Sehnsuchtsort der russischen Patriotenseele

KRIM Die Halbinsel ist ein mit nationalen Mythen aufgeladener Raum. Vielen Einwohnern gilt sie als ferner Teil der russischen Heimat

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

Russlands staatliche TV-Moderatoren sind seit Wochen im Einsatz an der Westfront. Langsam, aber stetig machen sie den Zuschauer mit dem Gedanken vertraut, dass die „Kleinrussen“ – die Ukrainer – allmählich eine Lektion verdient hätten. Das Wort „Krieg“ wird vermieden, doch dass das Eingreifen kein sanfter Akt sein würde, spürt der Bürger intuitiv.

Wie 2008, als Moskau Georgien in einen Blitzkrieg zwei separatistische Landesteile entriss und ihm das Liebäugeln mit der Nato vorerst austrieb. Nun droht erneut der Feind aus dem Westen, suggerieren Demagogen. Seine Fratze ist faschistisch, seine Vorhut westukrainisch. Sein wahres Gesicht jedoch europäisch-transatlantisch.

Es sind nicht nur die weniger gebildeten Schichten, die verängstigt oder verärgert auf die Ukraine schauen. Auch die russische Intelligenz begegnet dem Nachbarn mit wachsenden Vorbehalten. Die liberaleren Kreise empfinden Neid auf den Mut und die Hartnäckigkeit der Demonstranten in Kiew.

Die Spannungen haben sich auf die Krim verlagert. Auch dort sieht die russischsprachige Bevölkerung vornehmlich die staatlichen Moskauer Fernsehsender. Ebenso wie in Russland dürfte daher die Mehrheit der Bürger die Stationierung russischer Truppen auf der Halbinsel für unumgänglich halten.

Russland hat ein sehr enges Verhältnis zur Krim. Die Halbinsel ist ein mit nationalen Mythen aufgeladener Raum, seit Fürst Grigori Potemkin sie 1783 „von nun an für alle Zeiten“ in Besitz nahm. Es war im Auftrag seiner Geliebten, der Zarin Katharina II., die ihre Untertanen seither „die Große“ nannten. Sie hatte dem Reich einen Zugang zum Mittelmeerraum verschafft.

Vor der Eroberung herrschte auf der Halbinsel ein weitgehend unabhängiges Khanat der Krimtataren. Das turksprachige Volk unterhielt enge Kontakte zum Osmanischen Reich, das dem russischen Expansionsstreben damals noch im Wege stand. Stalin ließ die Nachfahren der Tataren 1944 nach Zentralasien deportieren und siedelte an ihrer Stelle Russen an. Neben 58 Prozent Russen und 25 Prozent Ukrainern leben heute wieder über 13 Prozent Krimtataren auf der Halbinsel, die zu Kiew halten.

Für den gewöhnlichen Russen heute ist die Insel mit den Erlebnissen in den Sommerferien verbunden. Generationen von Kindern verbrachten die Sommermonate in einem der Pionierlager. Die Erwachsenen stiegen später in kleinen Pensionen ohne jeglichen Komfort ab. Niemanden störte das, alle lebten so.

Das Sowjetflair hat sich die Krim vielerorts erhalten. Daher bemerken russische Touristen gar nicht, dass sie sich im Ausland befinden, zumal sie ohne Visum einreisen können. Auch hat sich das Dienstpersonal seine sprichwörtliche Pampigkeit bewahrt. In einer Umfrage zur kulturellen Identität gaben 2008 denn auch 15 Prozent noch an: „sowjetisch“. Das sowjetische Ambiente wird zudem durch Exmilitärs und Geheimdienstler verstärkt, die die Krim als Alterssitz erkoren. Dass die Halbinsel Sammelbecken von Sowjetnostalgikern wurde, könnte erklären, warum jetzt so viele paramilitärische Verbände auftreten.

Auch wenn sich im Alltag kaum etwas verändert hat, fällt es vielen Russen schwer, die Krim als Teil eines anderen Staates hinzunehmen. Noch immer wird Nikita Chruschtschow vorgeworfen, die Krim leichtfertig preisgegeben zu haben. 1954 schenkte Stalins Nachfolger sie der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik – am 300. Jahrestag des Treueschwurs der Kosaken für den Zaren. Russland wertete den Schwur als Akt der Unterwerfung. Hingegen sollen die Kosaken nur von einem vorübergehenden Beistandspakt ausgegangen sein. Ein Missverständnis, wie so viele in der russischen Geschichte.

Wie schwer einem Patrioten ums Herz wird, wenn von der Krim die Rede ist, zeigte auch Moskaus Exstadtpräsident Juri Luschkow. Er investierte Millionen Dollar in Sewastopol, den Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte, um das Zugehörigkeitsgefühl zu Russland zu fördern. Bis 2042 hat der Kreml den Stützpunkt gepachtet hat. Die nicht zur Republik Krim, sondern Kiew direkt unterstehende Stadt wurde als Vorzeigeobjekt russisch-sowjetischer Seemacht erbaut. Wie Luschkow sind ihre Einwohner überzeugt, dass die Stadt ein ferner Teil der russischen Heimat ist. Die Einwohner können russische Pässe erhalten, in Sewastopol sind etwa 16.000 aktive russische Soldaten stationiert, dazu ein Vielfaches an Reservisten. Im Zweiten Weltkrieg errang Sewastopol den Titel einer „Heldenstadt“ im Kampf gegen die deutschen Besatzer. „Sewastopol ist Russlands Ruhm, Sewastopol ergibt sich nicht“, proklamierte der Schriftsteller Ilja Ehrenburg. Die Stadt fiel trotzdem. Dieser Heroismus trägt dazu bei, dass sich viele Sewastopoler bis heute mit einem Imperium identifizieren, das es nicht mehr gibt. Sie seien weiterhin „loyale Diener dieses Reiches auf einem Territorium, das nun anderen gehört“, schreibt der US-Politologe Charles King.