„Wir hätten sie gar nicht erst gefangen“

Hisbollah-Chef Nasrallah gesteht, Israels Reaktion auf Gefangennahme der Soldaten unterschätzt zu haben. Offensichtliche Differenzen in der Partei Gottes über weitere Strategie. Libanons Gesellschaft über Entwaffnung der Schiiten-Miliz gespalten

AUS BEIRUT MARKUS BICKEL

Mussa ist zufrieden. „Nasrallah hat in seiner Rede gestern Fehler eingeräumt“, sagt der Taxifahrer aus dem Westbeiruter Stadtteil Hamra. „Das ist ein gutes Zeichen an die anderen Bevölkerungsgruppen im Libanon.“ Der Generalsekretär der schiitischen Hisbollah hatte in einem Interview des libanesischen Fernsehsenders NTV am Sonntagabend erstmals eingestanden, die Reaktion auf die Gefangennahme zweier israelischer Soldaten am 12. Juli unterschätzt zu haben. „Wenn wir gewusst hätten, dass Israel wegen der zwei Soldaten einen derartigen Großangriff auf den Libanon beginnen würde, dann hätten wir sie gar nicht erst gefangen.“ Das Eingeständnis überrascht, schließlich erklärte Nasrallah in dem Interview, dass die Hisbollah für den Herbst mit einem Krieg Israels gegen seine Organisation gerechnet habe.

Auch Nasrallahs Stellvertreter, Scheich Naim Kassem, räumte in einem Interview mit der liberalen Beiruter Tageszeitung Al-Nahar ein, „vom Ausmaß und der Stärke der israelischen Reaktion überrascht“ zu sein. „Wir hatten damit gerechnet, dass die IDF Gebiete nahe der Grenze für ein paar Tage bombardieren und nur minimale Schäden anrichten würde“, sagte der Vizegeneralsekretär der Hisbollah. „Die Größe der Aggression hat all unsere Erwartungen übertroffen.“

Dass die während des Krieges fast ausschließlich auf dem Hisbollah-nahen Fernsehsender Al-Manar präsenten Parteiführer zwei Wochen nach Ende der Kampfhandlungen in unabhängigen Medien auftreten, ist durchaus bemerkenswert. Libanesische Zeitungen berichten von einem bevorstehenden Strategiewechsel der Organisation. Nasrallah und Kassem sollen dabei für eine stärkere innenpolitische Bedeutung der mit 14 Abgeordneten im Parlament und zwei Ministern in der Regierung vertretenen Parteimiliz votieren, während Hardliner für eine Fortführung ihrer Rolle als regionaler Arm der iranischen und syrischen Außenpolitik plädieren.

Eine am Montag von der Hisbollah-kritischen Tageszeitung L'Orient Le Jour in Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut Ipsos veröffentlichte Umfrage gibt Aufschluss darüber, inwieweit die zu Kriegsbeginn harsch kritisierte Geiselnahme der Parteimiliz innenpolitisch geschadet hat. So lehnen 51 Prozent der 600 Befragten eine Entwaffnung weiter ab – innerhalb der schiitischen Bevölkerungsgruppe sind es sogar 84 Prozent. Während unter den sunnitischen Muslimen noch 54 Prozent gegen die Demilitarisierung der Miliz sind, sprechen sich Drusen (79 Prozent) und Christen (77 Prozent) mit überwältigender Mehrheit für eine Entwaffnung aus.

Die seit Kriegsbeginn immer wieder gestellte Frage, ob die Hisbollah gestärkt oder geschwächt aus dem Konflikt hervorgehen werde, lässt sich kaum beantworten. Die Entschlossenheit, mit der der Zivilschutzflügel der Partei, „Dschihad al-Binaa“ (Baukampf), die Dokumentation der Schäden und die Entschädigung der Betroffenen angeht, wird ihr sicherlich weiteren Zulauf bescheren.

Die Präsenz von bald bis zu 15.000 ausländischen Soldaten und die Rückkehr der Armee in den Südlibanon aber dürfte dem bewaffneten Flügel nicht nutzen. Ob der selbst von Sunniten von Kairo bis Damaskus als „Kriegsheld“ gefeierte schiitische Scheich Nasrallah seinen Ruhm allein mit sozialarbeiterischen Maßnahmen langfristig aufrechterhalten kann, ist fraglich. Nasrallahs Unlust auf eine erneute Konfrontation mit Israel wird in islamistischen Kreisen nicht nur auf Zustimmung stoßen. „Wir bewegen uns nicht auf eine zweite Runde zu“, sagte er am Sonntagabend auf NTV.