Keine Wahl ist auch eine Wahl

In Estland versucht das Parlament, einen neuen Präsidenten zu wählen – und scheitert. Wenn das so weitergeht, profitiert davon Amtsinhaber Arnold Rüütel

STOCKHOLM taz ■ In Estland hat gestern die Wahl eines neuen Staatspräsidenten begonnen. Doch vermutlich dürfte es einen Monat dauern, bis tatsächlich der Nachfolger des gegenwärtigen Amtsinhabers Arnold Rüütel feststeht. Und der könnte Arnold Rüütel heißen – obwohl er bislang überhaupt nicht kandidiert. Eine Zweidrittelmehrheit braucht es, um Staatspräsident werden zu können. Diese 68 Stimmen hat keine der Parteienkonstellationen im Riigikogu.

Zwei konservative Parteien und die Sozialdemokraten verfügen zusammen über 65 Stimmen. Diese drei Parteien hatten sich für den ersten Wahlgang auf die 62-jährige Ene Ergma, Mitglied der konservativen „Res Publica“ und Vizepräsidentin des Parlaments, geeinigt. Nachdem diese gestern – mit eben genau 65 Stimmen – scheiterte, soll als nächstes der 52-jährige Exaußenminister Toomas Hendrik Ilves, jetzt sozialdemokratischer Europaparlamentarier, ins Rennen gehen. Doch auch bei ihm ist fraglich, ob er die drei fehlenden Stimmen aus dem gegnerischen Lager gewinnen kann.

Denn die Parteien des linken Spektrums, Zentrumspartei und Volksverbund, sind entschlossen, auf den gegenwärtigen Amtsinhaber zu setzen. Die KP-Vergangenheit Rüütels ist für diese Parteien ebenso wenig ein Grund, an dessen Eignung für eine zweite Amtsperiode zu zweifeln, wie sein Alter von 78 Jahren. Beides sind die Hauptargumente seiner GegnerInnen für einen Wechsel.

Im Parlament hat Rüütel keine Chance auf eine Wiederwahl. Doch wenn in drei Wahlgängen kein Kandidat die erforderliche Mehrheit im Riigikogu erhält, tritt ein „Wahlmännergremium“ an dessen Stelle, in dem KommunalpolitikerInnen die Mehrheit stellen. Hier sind die Mehrheitsverhältnisse – nicht zuletzt aufgrund vieler parteipolitisch ungebundener kommunaler Wählervereinigungen – ganz anders als im Parlament.

Doch KritikerInnen beklagen, es sei nicht die Absicht der estnischen Verfassungsväter gewesen, die bewusste Blockade des Parlaments durch eine Minderheit zuzulassen. Eine Anzahl Intellektueller mit dem Rektor der Universität Tallinn an der Spitze sprechen in einem öffentlichen Aufruf von einem „politischen Skandal“. Und Kandidat Toomas Hendrik Ilves wittert gar einen „Hauch von Weißrussland“.

174 Stimmen benötigt Rüütel im Wahlmännergremium, dem er selbst eine „breitere demokratische Verankerung“ nachsagt als dem Parlament. Nach einer Analyse der Tageszeitung Äripäev hat er hiervon bereits 166 sicher. Um die fehlenden wird derzeit gemauschelt.

Dabei geht es, so die Informationen der Zeitung, nicht immer ganz sauber zu: Parteiwechsel, bei denen auch Geld eine Rolle spielt oder das Versprechen, bestimmte kommunale Investitionen aus Staatsmitteln finanziell zu fördern, seien üblich.

Schon 2001 war Rüütel vom Wahlmännergremium zum Staatspräsidenten gewählt worden. 76 Prozent der EstInnen würden ihn weiterhin gern in diesem – vorwiegend symbolischen – Amt sehen. Dass er mangels Englischkenntnissen und weil er auch nicht besonders eloquent ist, auf internationalem Parkett oft etwas verloren aussieht, spricht für viele seiner AnhängerInnen eher für seine Volksnähe. REINHARD WOLFF