Probleme im Sommerschlussverkauf


AUS DÜSSELDORF HENK RAIJER

Halit winkt ab. „Mein Problem kann man nicht lösen“, wirft der 18-Jährige genervt in die Runde. „Ich kann mir bei meiner Ausbilderin nichts mehr erlauben. Wenn ich noch eine Stunde fehle, flieg ich raus!“ Halit Celebi, schlank, Kurzhaarschnitt und Kuranyi-Flaum im Gesicht, hat schlechte Laune. Die Reise seiner Clique nach Berlin rückt immer näher und der Berufsschüler, der Koch lernt, weiß immer noch nicht, wie er seiner Lehrerin die drei Tage für die Teilnahme an der Finalrunde des Wettbewerbs „24 Stunden für morgen“ abschwatzen soll. „Ich kenne doch schon die Antwort“, sagt der junge Mann aus dem Düsseldorfer Problembezirk Wersten: „‘Nee, Halit, ist nicht drin!‘“

Doch Halits Defätismus fordert die fünf anderen in der Projektgruppe erst recht heraus. Vor allem die drei Mädels, die seit Juni kaum eines der wöchentlichen Treffen im Dachatelier des Düsseldorfer Künstlers Abdelhadi El Aidi geschwänzt haben. Schließlich haben Mariama, Nadia und Rachida, aber auch Tayfun und Firat selbst jede Menge Probleme: mit der Familie, der Schule, den Deutschen, manchmal auch mit der Polizei. Und schließlich sind sie hier, um mit Hilfe ihres Projekts „Probleme verkaufen“ jene Konflikte, die sie als Jugendliche mit Migrationshintergrund im deutschen Alltag haben, gemeinsam zu erkennen, zu bearbeiten und am 7. September in Berlin buchstäblich an den Mann zu bringen. „Mach‘ doch ‚ne Performance daraus, wie du am Herd stehst und dich mit der Lehrerin fetzt“, schlägt Nadia, eine 17-Jährige mit schwarzem Haarband und großen, filigranen Creolenringen im Ohr, Halit vor. „Ich bin doch kein Schauspieler“, grummelt der und nestelt in der Seitentasche seines schwarzen Sweatshirts nach einer Kippe.

Kunst als Brücke

Um Selbstdarstellung geht es bei „24 Stunden für morgen“ nicht unbedingt, wohl aber um Kreativität. „Probleme verkaufen“ lautet die Idee, mit der es sechs Haupt- und ein Berufsschüler aus dem sozialen Brennpunkt Wersten durch eine Initiative zweier Kunstschaffender in die Runde der letzten Neun des Wettbewerbs des Rates für nachhaltige Entwicklung der Bundesregierung geschafft haben. Bis zum Auftritt am 7. September vor dem Brandenburger Tor wollen Mariama, Firat und die anderen Bilder malen, einen Kurzfilm drehen oder ein Stück einüben, um Passanten plastisch vor Augen zu führen, welchen Anforderungen und Anfeindungen Jugendliche mit Migrationshintergrund in Deutschland ausgesetzt sind. An einem eigenen Verkaufsstand wollen die Jugendlichen aus Wersten ihre Alltagserfahrungen feil bieten. Die Idee: Sind diese erst einmal verkauft, haben die „Anderen“ das Problem.

Insgesamt waren zwischen Mitte März und Mitte Mai 46 Beiträge beim Rat eingegangen, bundesweit beteiligten sich 162 junge Menschen im Alter zwischen 16 und 28 Jahren an dem Ideenwettbewerb. Bei dem ging es um Lösungen für die Fragen von morgen, seien dies Stadtplanung, Überalterung, Umweltschutz oder Parallelgesellschaft. Am Ende hat die Jury zehn Vorschläge ausgewählt, die kreativsten Gruppen bekamen für die Umsetzung ihrer Pläne Profis aus den Sparten Theater, Kunst und Fernsehen als Coach an die Seite gestellt. „Eine Gruppe ist uns inzwischen abhanden gekommen, weil sie der selbst gestellten Aufgabe nicht gewachsen war“, sagt Elisabeth-Marie Mars von der Arbeitsstelle Weltbilder in Münster, die seit Jahren Projekte mit Jugendlichen „auch aus bildungsfernen Schichten“ macht und im Auftrag des Rats das Kommunikationsprojekt „24 Stunden für morgen“ pädagogisch betreut. „Wir wählen gerne künstlerische Formen, um schwierige Themen wie Nachhaltigkeit oder Rassismus zu kommunizieren“, erklärt die Diplompädagogin, die seit zwölf Jahren bei der Arbeitsstelle Weltbilder tätig ist und sich selbst als „Spezialistin für ungewöhnliche Maßnahmen in der Bildungsarbeit“ bezeichnet. „Wir packen die Leute bei ihrem künstlerischen Interesse“, sagt Elisabeth-Marie Mars, die selbst Mitglied der Jury ist. „Und in Düsseldorf ist da Abdelhadi El Aidi eine wunderbare Brücke.“

Dessen Dachatelier im Stadtteil Bilk gleicht nach der ersten kreativen Stunde an diesem Nachmittag einer qualmgeschwängerten Kneipe. Als hätten Mariama, Nadia, Rachida und die beiden Jungs nur auf Halits Frustkippe gewartet. El Aidi, ein Marokkaner, der vor zwei Jahrzehnten als Stipendiat nach Düsseldorf kam und seither hier arbeitet, ausstellt und lebt, hat seine liebe Mühe, die Truppe bei diesem ersten Treffen nach den Sommerferien für die gemeinsame Aufgabe zu begeistern. Laute orientalische Popmusik begleitet die Gespräche, die vorrangig um die noch einzuholende Einwilligung der Eltern und um die Abende in Berlin kreisen.

„Ich gehöre nicht dazu“

Abdelhadi El Aidi, ein jovialer 47-Jähriger mit einem schweren Silberring am rechten Mittelfinger, hat dafür Verständnis. Er weiß um die Sehnsüchte von Jugendlichen, die zu wenig Aufmerksamkeit bekommen und die allein schon der Gedanke an die nahende Auszeit vom prekären Alltag zwischen traditionellem Elternhaus und den Anforderungen in Schule und Gesellschaft in Aufregung versetzt. „Probleme verkaufen“ ist nicht sein erstes Projekt. Zusammen mit der Kunsthistorikerin Jutta Saum hat der Maler und gelernte Keramikdesigner schon in der Vergangenheit Jugendliche aus sozialen Brennpunkten für künstlerische Projekte mit emanzipatorischem Anspruch rekrutiert.

Wie im aktuellen Fall bei der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Sechs bis sieben Mal seien er und Jutta Saum im AWO-Jugendtreff in Wersten aufgekreuzt, um einen halbwegs gefestigten Freundeskreis für die Umsetzung der Wettbewerbsidee zu finden. „Es war nicht einfach, das Vertrauen der Clique zu gewinnen und die Kids zu überzeugen, dass Öffentlichkeit was bringt“, erzählt El Aidi. Schließlich sei es mit Hilfe des AWO-Streetworkers Markus Stüttgen gelungen, die Neugierde der Jugendlichen zu wecken.

Der Sozialpädagoge mit dem langen grauen Haar kennt sie alle: vom Werstener „Aktivtreff“ und von der Straße. „Sie haben nicht die besten Startchancen, sind aber ausbaufähig“, sagt Markus Stüttgen von den Projektmitgliedern. Die hätten zwar mehrheitlich einen deutschen Pass, lebten aber zwischen den Stühlen. Nadia, Firat und Mariama, Tayfun, Halit und Rachida stehen im ständigen Konflikt zwischen den religiösen und kulturellen Werten ihrer Familien und den Anforderungen, die ein Leben in Deutschland mit sich bringt. Sie leben in Plattenbauten auf engstem Raum und unter schwierigen sozialen Bedingungen. Es gibt Schulprobleme, Drogenprobleme und Mobbingprobleme. In manchen Häuserblocks liege der Migrantenanteil bei hundert Prozent, sagt Stüttgen. „Lebensmittelpunkt für Jugendliche in Wersten ist die Straße. Und dort treffen sie mit Leuten zusammen, mit denen wir sie lieber nicht sehen“, so der 33-Jährige, der am Abend ins Atelier gekommen ist, um zu schauen, wie weit die Ideenbörse für Berlin gediehen ist.

Nadia und Rachida, die beiden 17-jährigen Mädels aus marokkanischem Elternhaus, haben sich inzwischen von den Rauchern abgesetzt und beschriften die Innenseite mitgebrachter Muscheln mit ihren Empfindungen, Hoffnungen und Ängsten – allesamt Probleme, die sie beim Aktionstag in Berlin loswerden wollen. Beide besuchen die zehnte Klasse einer katholischen Hauptschule in Düsseldorf und machen sich keine großen Illusionen, was ihre Aussichten auf einen Ausbildungsplatz anbelangt. „Ich bin zwar hier geboren, aber ich gehöre trotzdem nicht dazu“, sagt Rachida. „Vor allem Ältere lassen einen das ständig spüren.“

Während das Mädchen im schwarz-weiß gestreiften Sweatshirt mit der 18-jährigen Mariama, deren Eltern aus Gambia stammen, über den „Horror“ einer frühen Schwangerschaft reflektiert, bemalt Nadia weiter Muscheln mit Sinnsprüchen. „Missgunst – Neid – Krieg“, heißt es da im Oval auf beigem Grund. „Misshandlung von Mädchen“ oder „Rassismus gegen Farbige“. „Die uns das abkaufen, sollen ins Grübeln kommen“, sagt Nadia und schreibt: „Wo ist das Problem mit meiner Religion?“