Estland blüht allein

Vehement wird die Ostsee als Boom-Region beschworen. Von der Wiederbelebung der Hanse ist zu deren 650. Jubiläum gar die Rede. Doch die Analyse zeigt eine starke Kluft zwischen Ost und West

Interview: Petra Schellen

taz: Herr Polkowski, welche Regionen des Ostseeraums könnten Motor eines künftigen Wirtschafts-Booms werden?

Andreas Polkowski: Die Wirtschaftspotenziale sind sehr ungleichmäßig verteilt, weil zwischen den westlichen und den östlichen Anrainerstaaten grundlegende Unterschiede bestehen. Denn trotz des starken Wachstums im Osten seit der Wende ist dieses Gefälle noch nicht ausgeglichen. Das wird noch viele Jahre dauern. Das größte Entwicklungspotenzial für die Zukunft bieten Informations- und Biotechnologie sowie die Dienstleistungen.

Ihren Studien zufolge ist der Handel der Ostsee-Anrainer mit Brennstoff- und Ölprodukten in den letzten Jahren gestiegen. Liegen da Wachstumspotenziale?

Möglicherweise. Denn der Handel im Ostseeraum hat sich seit den 90 Jahren sehr dynamisch entwickelt. Ungefähr 70 Prozent des Exports entfallen inzwischen auf Industrieprodukte, aber in letzter Zeit gibt es einen starken Zuwachs bei Brennstoffen und Ölprodukten. Diese Rohstoffe, die Russland durch den Ostseeraum nach Westeuropa transportiert, bieten auch für die Durchleitungsländer Vorteile. Sie profitieren zum Beispiel von den Transitgebühren.

Welche wichtigen Häfen der Ostseeregion könnten deren Wachstum fördern?

Es gibt insgesamt rund 250 Häfen, von denen ein Drittel Umsätze von über einer Million Tonnen im Jahr erzielt. In letzter Zeit sind im finnischen Meerbusen auch neue Häfen entstanden, die Russland gebaut hat – Ustj-Luga und Primorsk zum Beispiel. Durch deren Bau wollte sich Russland unabhängig machen von den baltischen Staaten, deren Häfen jetzt nicht mehr in seiner Einflusssphäre liegen.

Wie verhält es sich mit der ökonomischen Freiheit der Ostsee-Anrainerstaaten? Wie stark wird wirtschaftliches Wachstum vom Staat begünstigt?

Hier ist Estland am fortschrittlichsten, weil man dort seit der Wende eine sehr liberale Wirtschaftspolitik betreibt und staatliche Regulierungen weitgehend vermeidet. Ausländische Investoren finden also kaum Hindernisse vor.

Was können die Esten, was die Letten, Litauer und Polen nicht können?

Estland hat seit der Wende sehr konsequent das Lehrbuch des liberalen amerikanischen Ökonomen Milton Friedman umgesetzt. Die anderen Länder waren lange sehr unentschlossen. Mal haben sie zum Beispiel die Privatisierung vorangetrieben, dann wieder gestoppt. Es gab Phasen des Fortkommens und des Stillstands.

Wie hoch ist die Wachstumsrate der Ostsee-Anrainer im Vergleich zur EU?

Am auffälligsten sind hier die baltischen Staaten. Deren Wachstumsraten liegen bei acht Prozent jährlich. Die polnische Wirtschaft wächst in den letzten Jahren im Schnitt um zirka fünf Prozent im Jahr. Im Vergleich zur EU ist das sehr viel.

Und im Vergleich zu den USA, Japan oder China?

Da kann die Ostsee-Region nicht konkurrieren. China erzielt derzeit Wachstumsraten von zehn Prozent im Jahr. Dasselbe gilt für die technologische Lücke. Sie ist schon zwischen den westlichen und den östlichen Ostsee-Anrainerstaaten immens – und umso größer im Vergleich zu den oben genannten Ländern. China etwa bestreitet 30 Prozent seiner Exporte mit Hochtechnologieprodukten. Bei den westlichen Ostsee-Anrainern sind es 17 bis 21 Prozent, bei Estland immerhin noch 14. Polen, Litauen und Lettland kommen beim Technologie-Export auf jeweils drei bis fünf Prozent.

Wie viel Prozent der Exportgüter der Ostsee-Anrainer verbleiben in der Region?

Auch hier fallen vor allem die baltischen Staaten ins Auge, die zwischen 50 und 70 Prozent ihres Handels mit anderen Ostsee-Anrainern abwickeln. Die größeren Staaten haben bedeutend niedrigere Anteile. Man muss allerdings auch die Volumina berücksichtigen. Deutschland etwa wickelt nur knapp zehn Prozent seines Außenhandels mit der Ostsee ab, kommt aber auf rund 120 Milliarden Euro. Die baltischen Staaten erzielen zusammen einen Außenhandelsumsatz von rund 20 Milliarden Euro.

Warum treiben gerade Litauer, Letten und Esten so viel Handel miteinander – die doch seit der Wende nie kollektiv als „Balten“ gelten wollten?

Das liegt daran, dass diese Länder nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihren Außenhandel komplett umstellen mussten. Da lag es nahe, zunächst mit den Nachbarländern Handel zu treiben. Inzwischen beginnen sich diese Länder aber auch global zu orientieren.

Ist es überhaupt sinnvoll, die Ostsee-Region zur Wirtschaftsregion zu stilisieren? Ist es den betreffenden Ländern dienlich, sich auf diese Region zu konzentrieren?

Man kann die Ostsee-Region nicht als einheitlichen Raum betrachten. Dafür sind die Divergenzen einfach zu groß. Grundsätzlich glaube ich aber, dass sich der Ostseeraum als Wachstumsregion dynamisch entwickeln wird. Aber nicht als Ganzes, sondern punktuell, mit räumlich konzentrierten Wachstumspolen. Die Metropolen etwa haben gute Entwicklungschancen.

Reden wir mal Klartext: Ist die Ostsee überhaupt eine Boom-Region?

Verglichen mit anderen Regionen in der Welt – nein.