Verwirrende Stammbäume

Zur Bestimmung von Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Lebewesen werden zunehmend Genanalysen eingesetzt. Einige Zweige des Stammbaums mussten bereits umsortiert werden. Doch noch wird gestritten, wie aussagekräftig diese Methode ist

„Die Genanalyse hilft vor allem dort, wo es Ungereimtheiten gibt“

VON KATHRIN BURGER

Die menschliche Zelle ist anders als die eines Joghurtbakteriums. Die Mikrobenzelle muss etwa ohne Zellkern auskommen. So teilten Biologen die Welt in Lebewesen mit und ohne Zellkern, die Prokaryoten und die Eukaryoten. Zu den Bakterien zählte man lange Zeit auch die Archaebakterien. Doch mit dem Einzug der Gentechnik in die Welt der Systematiker hat sich dies geändert. Man hat Gene verglichen und festgestellt: Archaea bilden einen eigenen Zweig am Beginn des Stammbaums, am Ursprung des Lebens.

Und nicht nur hier hat die Anwendung gentechnischer Methoden zu einem Paradigmenwechsel geführt. Bei der Bestimmung von Arten und damit bei der Erforschung der Evolutionsgeschichte kam es in letzter Zeit zu zahlreichen Umsortierungen im Stammbaum des Lebens.

Bis noch vor gut zehn Jahren bestand das Handwerkszeug der Systematiker nämlich hauptsächlich aus Auge und Händen. Denn der geübte Forscher konnte etwa an der Blattform einer Pflanze, ihrer Blüten oder Sprosse erkennen, an welchem Platz im Stammbaum die Blume einzuordnen ist.

Mikrobiologen taten sich jedoch mit dieser Vorgehensweise schwer. Sind Unterschiede an ihren Forschungsobjekten – Viren und Bakterien – doch oft äußerlich kaum erkennbar. Darum ersannen sie in den 1980er-Jahren die Genanalyse, um die Verwandtschaftsverhältnisse dieser Kleinstlebewesen zu klären. Denn man geht davon aus, dass Lebewesen umso näher verwandt sind, je ähnlicher ihre Genausstattung ist.

Anfangs beschränkte man sich auf den Vergleich von „konservativen“ Genen. Auf solche Gene ist ein Lebewesen angewiesen und vererbt sie sicher weiter. Als Goldstandard hat sich die DNS der Ribosomen herausgeschält. Denn diese Zellbestandteile sind zentrale Elemente bei der Eiweißsynthese – alle Lebewesen sind auf sie angewiesen.

Die Genomanalyse ist heute so avanciert, dass ein einfacher PC aus 1.000 Gensequenzen in zwei Stunden einen Stammbaum berechnet. Weil die Gensequenzierung nicht nur schnell, sondern auch billig ist, haben sie auch Tier- und Pflanzenforscher Ende der 1990er-Jahre für sich entdeckt. Der Einsatz von Rechnern ist seitdem auch in Zoologie und Botanik nicht mehr wegzudenken. Trotzdem ersetzen Bits & Bytes nicht den traditionell arbeitenden Systematiker. Vielmehr wird der Blick in die Erbsubstanz von den meisten Wissenschaftlern als zusätzliche Informationsquelle betrachtet. „Die Genanalyse hilft vor allem dort, wo es Ungereimtheiten gibt“, so Arndt von Haeseler, vom Zentrum für Integrative Bioinformatik der Uni Wien.

Mit der laufenden Entschlüsselung ganzer Genome ist die Suche nach dem „Superbaum“ der Evolution nun zumindest bei höheren Lebewesen in erreichbare Nähe gerückt. Die Datenmengen werden problemlos von Großrechnern umgewälzt. Die neu eingeläutete Ära heißt Phylogenomics.

Von solchen Superbäumen hat man sich jedoch bei den Kleinstlebewesen verabschiedet. Das Genom von Bakterien, Pilzen und Viren ist extrem instabil. Gene wandern häufig von einem in den nächsten Organismus – Wissenschaftler sprechen von „lateralem Gentranfer“. Deshalb unterscheiden sich hier nahe Verwandte oft in ihrer Erbinformation. Und deshalb verzweigt sich die Ahnenreihe der Mikroben nicht wie bei einem Baum, sondern entwickelt sich durch die Aufnahme spezifischer Erbbausteine teilweise sogar wieder zurück. Es entstehen Büsche, Ringe, Kreise mit Ästen und andere seltsame Gebilde, mit denen Mikrobiologen die Evolution abzubilden versuchen.

Die Entdeckung der vagabundierenden Gene hatte unter den Molekularbiologen vor einigen Jahren zu einer regelrechten Hysterie geführt, schließlich war man die hierarchische Weitergabe von Genen gewöhnt und nicht die chaotische Durchmischung innerhalb verschiedener Arten. Man unkte, die Quervererbungen hätten die Evolution so vernebelt, dass man den bis dato erarbeiteten Stammbäumen nicht trauen könne.

Die Gemüter haben sich mittlerweile beruhigt. Lateraler Gentransfer wird bei Mikroben als Normalität angesehen. Und auf den Stammbaum höherer Lebewesen scheint fremde DNS kaum Auswirkungen zu haben.

„Man weiß zwar, dass auch Tier- und Pflanzenzellen bakterielle und vor allem virale Gensequenzen aufnehmen können. Weder bei Schnupfen noch bei Aids kommt es aber zu einem dauerhaften Einbau der Erbinformation“, so Carsten Roller, Geschäftsführer beim Verband Deutscher Biologen.

Und dennoch halten sich Zweifel über die Aussagekraft der Genvergleiche. Gerhard Haszprunar, Direktor der Zoologischen Staatssammlung in München meint etwa: „Mit der Genanalyse kann man zwar ermitteln, wie sich Gene quantitativ unterscheiden. Was dies aber biologisch bedeutet, wissen wir höchst selten.“ Beispielsweise haben Mäuse und Menschen nahezu identische Erbbausteine. Weil diese aber unterschiedlich gesteuert werden, haben Menschen kein Fell, keinen Schwanz und keine Nagezähne.

Viele molekularbiologische Labore arbeiten daher derzeit daran, die Methode zu optimieren. Etwa indem Gengruppen unterschiedlich gewichtet werden. Große Überraschungen erwartet man jedoch nicht mehr: „Der Stammbaum wird uns trotz allem erhalten bleiben“, glaubt von Haeseler.