Verborgene Arbeiten

Selten zeigt das Kino Menschen bei der Arbeit. Die Filmreihe „Work in Progress“, die am Wochenende im Berliner Kino Arsenal beginnt und dann im Rahmen von 40 Festivals laufen wird, will das ändern

VON BERT REBHANDEL

Eine vierstellige Nummer und die Blutgruppe sind auf dem Ausweis von Mitarbeitern eines indischen Call-Centers eingetragen. Der Name spielt keine Rolle, denn sie arbeiten hier unter Pseudonym. Eine junge Frau sollte Valerie heißen – weil ihr der Name nicht gefiel, durfte sie sich selbst einen aussuchen. Nun heißt sie Nicky Cooper und spricht mit Menschen in Nordamerika, während es in Indien tiefe Nacht ist. Die Verlagerung bestimmter Formen von Arbeit in Länder mit niedrigeren Lohnniveaus macht einen bedeutenden Teil der Globalisierung aus.

Wie der indische Film „John & Jane“ von Ashim Ahluwalia deutlich macht, geht die Dynamik dabei in beide Richtungen. Die Mitarbeiter von Call-Centern, die hier porträtiert werden, erleben ihre Arbeit als einen Eintritt in die amerikanische Gesellschaft, in der sie jede Form von Aufstieg für realistisch halten. „My dream is seriously to become a billionaire“, sagt ein junger Mann, der die ersten Schritte auf dem Weg zum Billionär als Handelsvertreter einer Firma unternimmt, die von allen gebräuchlichen Markenprodukten eine Amway-Version herstellen lässt. Das Unternehmensprinzip von Amway ist eine Art Pyramidenspiel – man kann schnell aufsteigen, wenn man jemanden findet für die Position unter sich. Ganz unterschiedliche Formen von Arbeit sind in „John & Jane“ vorzufinden, und mehr denn je zuvor geht es dabei nicht nur um Erwerb, sondern um Identität.

Damit passt der Film hervorragend in die Reihe „Work in Progress“, die an diesem Wochenende in Berlin im Arsenal mit einem „StartUp“ beginnt und danach bundesweit im Rahmen von 40 Festivals zu sehen sein wird. Die Kulturstiftung des Bundes mit ihrem Projekt „Arbeit der Zukunft“ bildet den größeren Rahmen für „Work in Progress“, das auf eine Initiative der Freunde der deutschen Kinemathek zurückgeht. Viele der ausgewählten Filme setzen bei der Repräsentation der Arbeit selbst an. Im Mainstreamkino wird die klassische Arbeit (die Verrichtung am Fließband, der Akkord, die handwerkliche Tätigkeit, die Organisation am Schreibtisch) kaum gezeigt, deswegen wird sie im Dokumentarkino eigens thematisiert, und ein bestimmtes Ethos des Autorenfilms zielt ebenfalls ausdrücklich auf die Darstellung von Arbeit ab.

Es ist viel darüber geschrieben worden, dass das Kino selbst ein fordistisches Medium ist, eine Laufbildillusion, die auf der Fließbandarbeit von Einzelbildern beruht. Die Produktivitätsgewinne, die in der Industriearbeit im Verlauf des letzten Jahrhunderts erzielt wurden, hat das Kino nicht in vergleichbarem Maß erzielt. Es hat seine konventionelle Erzählsprache beibehalten, nur an den avantgardistischen Rändern hat es sich gelegentlich auf ein Spiel mit seiner industriellen Herkunft eingelassen. Arbeit bleibt auf sich selbst beschränkt. Sie wird nicht in ihrem Kontext gezeigt, sondern als aus dem Alltag (und aus den sozialen Systemen) herausgelöster Akt. Dabei gibt es die Arbeit allein eigentlich nicht. Es gibt sie als Teil einer Kultur, und es gibt sie im Antagonismus zum Kapital.

Das britische Amber Production Team, das 1969 in Newcastle gegründet wurde, versteht sich selbst als Teil der „working class“. Das ursprünglich rein dokumentarische Interesse der Gruppe hat sich bald ausdifferenziert, die Menschen in der britischen Industrieregion spielen sich selbst, aber sie arbeiten nicht nur in, sondern mit ihren Rollen. „Like Father“ aus dem Jahr 2001 zeigt, wohin es Amber mit dieser hybriden Form inzwischen geschafft hat: Zu sehen ist eine Bergarbeiterfamilie. Der Vater ist bereits im Ruhestand, er widmet sich der Taubenzucht. Der Sohn baut sich gerade ein neues Leben als Musiker auf, vernachlässigt dabei aber seinen eigenen Sohn Michael. Alle drei werden mit ihren je eigenen Interessen mit einem Infrastrukturplan konfrontiert, den die Regionalbehörde für die Gegend ausgeheckt hat. Der Umbau Englands in eine postindustrielle Servicegesellschaft wird in „Like Father“ zu einem Generationendrama, in dem jede Form von auch nur kleinbürgerlicher Kontinuität verloren geht. Die Menschen finden sich am Ende einer langen Kausalkette vor, deren Analyse sie selbst nicht leisten können, die ihnen aber auch nichts bringen würde, denn es gibt dem Kapital gegenüber keine Hebelwirkung mehr. Die klassischen Formen der Durchsetzung von Rechten sind obsolet.

Dieser Zusammenhang spielt auch bei „Work in Progress“ eine Rolle. Dabei verspricht Isaac Isitan aus der Türkei mit seinem Video „L’argent“ allerdings ein wenig zu viel, wenn er „die verborgene Seite des Geldes“ zu enthüllen meint. Isitan hat in Argentinien und der Türkei gedreht, zwei Ländern, die in jüngerer Zeit von massiven Finanzkrisen getroffen wurden. Die kleinen Leute, die ihre Ersparnisse verloren und wegen der Abwertung der Landeswährung plötzlich enorm hohe Schuldzinsen zu tragen hatten, sind für Isitan die Opfer eines internationalen Finanzsystems, das keiner Kontrolle unterliegt. Argentinien und die Türkei waren einmal „Selbstversorgerstaaten“. Sie konnten ihre eigene Bevölkerung ernähren und sogar noch Güter exportieren. Erst mit dem Anwachsen der Staatsschuld, so Isitan, haben sich diese Länder an die internationalen Kapitalmärkte ausgeliefert. In der Folge mussten sie den Diktaten des Internationalen Währungsfonds folgen, womit auch Isaac Isitan die Rolle des Schurken in der Globalisierung erwartbar besetzt.

Er geht dann aber noch einen Schritt weiter. „L’argent“ ist nicht nur eine Sache der Banken, sondern auch eine Sache der Menschen. In Argentinien gibt es inzwischen, wie Isitan zeigt, weit verzweigte Netzwerke, in denen eine neue Tauschwirtschaft entsteht, die unterhalb der mit offiziellem Geld operierenden Konsumwirtschaft funktioniert. Die Menschen in Argentinien oder in Ithaca im amerikanischen Bundesstaat New York schaffen de facto Inseln innerhalb des Kapitalismus. Sie entziehen sich, indem sie Leistungen wie Zahnbehandlung mit anderen Leistungen verrechnen. Arbeit kommuniziert dann wieder mit Arbeit. Das gegenwärtige System ist in erster Linie darauf ausgelegt, das Geld „arbeiten“ zu lassen – die richtige Arbeit muss deswegen billiger werden, vielfach wandert sie auch in den Untergrund ab.

Nicht wenige der Filme im Rahmen von „Work in Progress“ handeln deswegen auch von (illegaler) Migration, von den Wanderungsbewegungen in reiche Länder, in denen auch niedrige Tätigkeiten noch lukrativ sind, wenn man sie mit dem Wohlstandsniveau des eigenen Herkunftslands vergleicht. „Les oiseux du ciel“, ein Spielfilm von Elaine de Latour, folgt zwei afrikanischen Männern, von denen einer über Spanien nach Paris gelangt, während der andere wieder in die Elfenbeinküste abgeschoben wird. Sein Feldzug nach Europa erweist sich als Debakel. „Ein Krieger kann nicht ohne Beute heimkehren“, sagt er sich, dies ist aber nicht das letzte Wort.

Der Kapitalismus erscheint heute als alternativlos auf einer globalen Ebene. Diese Ebene ist für das Kino und die Künste auch kaum erreichbar, allenfalls auf einer allegorischen Ebene gibt es ein Bild vom Kapitalismus selbst. Die Alternativen eröffnen sich dagegen auf jener Ebene, auf der das Kino und die visuellen Künste ihre eigenen industriellen Bedingungen handwerklich nutzbar machen: in überschaubaren Szenarien von Tausch und Austausch, in Nischen und Netzwerken, in Abkehr von den kleinen Profitkompensationen, mit denen der Kapitalismus die Leute bei Laune hält. Die jungen Inder setzen noch vollständig auf Inklusion. Eine wachsende Zahl von Menschen ist sich da nicht mehr so sicher.