Wo sich die Wege trennen

STREIT Das Geschlecht entscheidet, wie Mädchen und Jungs Konflikte austragen – so will es das Vorurteil. Aber stimmt das? Eine Spurensuche vom Kindergarten bis zum Mädchenhaus

VON ANNIKA LASARZIK

„Zick nicht wieder rum!“ oder „Setz dich durch!“ – solche Kommentare lassen Eltern fallen, wenn Kinder streiten. Dahinter verbergen sich stereotype Geschlechterbilder, die auf Jungen und Mädchen übertragen werden. Und die führen dazu, dass die Geschlechter Konflikte auf unterschiedliche Weise austragen, sagt Olaf Stuve. Der Soziologe vom Bildungsverein „Dissenz“ forscht zu den Themen Geschlecht und Gewaltprävention.

„Von Geburt an wird Kindern vermittelt, wie sie sich ihrem Geschlecht entsprechend zu verhalten haben“, sagt Stuve. Die Prägung beginne im Elternhaus und setze sich in den Bildungseinrichtungen fort. „Mädchen, die sich in Konflikten verständig und lösungsorientiert geben, ernten von ihrer Umwelt Lob und Anerkennung, gelten als brav und vernünftig“, sagt Stuve. Wenn Jungen sich streiten, sollen sie vor allem als Gewinner aus dem Konflikt hervorgehen.

Mädchen schließen aus

Tatsächlich belegen pädagogische Studien, dass sich das Sozialverhalten von Kindergartenkindern unterscheidet. Danach verhandeln Mädchen und sind rücksichtsvoller, Jungs streiten häufiger und offensiver. Während es bei Mädchen um konkrete Beziehungskonflikte und Regeln der Freundschaft geht, loten Jungen Hierarchien aus und verteidigen ihre Machtposition in der Gruppe. Streiten Mädchen untereinander, werden sie eher verbal aggressiv, versuchen andere abzuwerten oder sie aus der Gruppe auszuschließen.

Verallgemeinern möchte Olaf Stuve aber nicht: „Wie ein Kind sich entwickelt und ob es sich durch die Stereotype prägen lässt, wird am Ende individuell entschieden.“ Aber es gebe die Tendenz, dass sich bereits kleine Kinder den tradierten Geschlechterbildern beugen. Der Kindergarten sei da ein wichtiger Ort der Sozialisation, weil Kinder sich dort in Gruppen wiederfinden und auch von den ErzieherInnen häufig ein traditionelles Geschlechterbild vermittelt bekämen. „Das geschieht subtil und ist den Lehrkräften nicht bewusst“, sagt Stuve.

Es gibt viele Theorien, die den Unterschied zwischen den Geschlechtern erklären wollen. Ob vor allem genetische Bestimmung, kognitive Fähigkeiten oder die Sozialisation den Ausschlag geben, ist wissenschaftlich umstritten. Doch eines scheint sicher: Das Sozialverhalten von Kindern wird von der Geschlechtsidentität beeinflusst.

Drittes Lebensjahr trennt

Wann genau den Kindern ihr eigenes Geschlecht und die damit verbundenen Erwartungen bewusst werden, ist ganz individuell. Forscher wie der Psychologe Tim Rohrmann gehen jedoch davon aus, dass besonders das dritte Lebensjahr ein wichtiger Entwicklungsschritt ist. Dann beginnen Mädchen und Jungen getrennt voneinander zu spielen und entwickeln geschlechtliche Präferenzen, was Spielzeug oder Kleidung angeht. Spätestens mit dem Eintritt in die Grundschule verändert sich das Verhalten je nach Geschlechterrolle.

„Jungen und Mädchen orientieren sich an den Erwartungen, die an sie gestellt werden – und später gilt ihr Verhalten dann als Bestätigung der Stereotype“, sagt Stuve. Bei Jungen werde ein Auge zugedrückt und auch körperlich ausgetragene Konflikte mit Sprüchen wie „Jungs raufen eben“ kommentiert. Werden Mädchen im Streit aggressiv und laut, gelten sie als Zicke. So ein Wort präge sich ein – und beeinflusse Frauen auch später noch.

Die Psychotherapeutin Jutta Diederichs arbeitet im Mädchenhaus Bremen und betreut junge Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind oder sich selbst verletzen. „Viele Mädchen behalten Probleme für sich und fallen nicht durch äußere Aggressionen auf“, sagt sie. „Sie haben gelernt, sich in Konflikten still und duldsam zu verhalten – also richten sie Kritik gegen sich selbst, entwickeln Selbstzweifel, statt eigene Interessen durchzusetzen.“

Erlerntes Verhalten

Dieses erlernte Verhalten sei die Grundlage für zahlreiche psychische Krankheiten, die sie bei den jungen Patientinnen beobachte: Essstörungen wie Magersucht und Bulimie und selbstverletzendes Verhalten seien immer noch typisch weibliche Erkrankungen. „Bei vielen Mädchen ab zwölf Jahren liegen Probleme mit der eigenen Identität verborgen. Weil sie den Anforderungen, die ihre Umgebung an sie als „gutes Mädchen“ stellt, nicht erfüllen, zweifeln sie an ihrer Persönlichkeit und ihrem Wert als Frau“, sagt Diederichs.

Sie erlebe, dass die Geschlechter heute wieder eher mit traditionellen Rollen verknüpft sind. „Ich bin immer wieder überrascht, wie sehr sich gerade Jugendliche heute an den Rollenbildern orientieren“, sagt Diederichs. „Mädchen- und Jungengruppen treten homogen auf, viele haben geradezu Angst, aus der Rolle zu fallen.“ Und sie erlebe auch, dass viele Eltern selbst unter einem Normierungszwang stehen und wollen, dass ihre Kinder möglichst wenig anecken, weil sie es so leichter in der Gesellschaft hätten.

Auch Soziologe Stuve hat eine Entwicklung hin zum Konservativen festgestellt: „Mädchen wird heute vermittelt, dass das mit der Gleichberechtigung schon erreicht sei, sie aber trotzdem alles allein schaffen und ihre Rechte ständig einfordern müssen“, sagt er.

Stereotypes Streitverhalten

Nicht nur die Mädchen, sondern auch die Jungen leiden unter den Stereotypen und passen ihr Konfliktverhalten den Erwartungen an. „Es gibt immer noch dieses alte Bild der starken, dominanten Männlichkeit“, sagt Diederichs. „Zarte und gefühlvolle Jungen bekommen spätestens in der Pubertät Probleme, weil ihr Verhalten in der Gruppe als unmännlich angesehen wird.“ Zu diesem Zeitpunkt hätten die Kinder die Geschlechterstereotype meist schon so weit verinnerlicht, dass abweichendes Verhalten von der Norm diskriminiert werde.

Einen Zusammenhang zwischen Religion, Herkunft und Geschlecht, wie ihn die Geschlechterforschung kennt, erlebt Diederichs in ihrem Alltag nicht. „Das ist doch auch so ein Klischee. Es gibt ebenso liberale muslimische Familien, die ihre Mädchen selbstbewusst erziehen, wie strenge deutsche Familien, in denen Konflikte nicht offen ausgetragen werden.“