Dinieren für die Revolution

Erst das Fressen, dann die Moral? Nicht ganz, wenn in einem Hamburger Aktionszentrum norddeutsche Anarchisten zusammenkommen bei Wein und vegetarischem Fünf-Gänge-Menü (auf Wunsch auch vegan)

Eine lange, L-förmige Tafel. Weiße Tischdecken. Kerzenständer. Durch die Fenster fällt nur wenig Licht vom Licht des dunklen und späten Samstagnachmittag in das Souterrainzimmer mit der niedrigen Decke. Es riecht nach Essen, Wein, Knoblauch. Auf dem Tisch stehen in einer weißen Porzellanschale Oliven und Aioli, daneben ein Korb geschnittenes Baguette. In einer weiteren Schüssel duften Ofenkartoffeln mit Rosmarin. Besteck klimpert auf den Tellern, man unterhält sich, schwatzt. „Können wir hier drüben nochmal den Wein haben?“. Die Karaffe mit dem dunklen Portugiesen wird gereicht.

„Endlos Rotwein“, versprach die Einladung; vegetarisches Menü, fünf Gänge. Absender: das „Libertäre Zentrum“. Anarchie, schön, aber Hauptsache nicht schon wieder Parmesan mit 8-Minuten-Nudeln und Pesto, dachte sich der unbedarfte Gast und meldete sich an.

„Ich gründe eine Gewerkschaft“, sagt mein Tischnachbar Sebastian, kurz Bas. FAU? „Freie Arbeiter Union“ – nie gehört, denke ich. Gewerkschaft kenne ich, tolle Behörde. Aber „Anarchosyndikativ“ – wie? „Oh, dann muss ich jetzt wohl denken“, stöhnt Bas und lächelt freundlich, aber gequält. Umsturz der Gesellschaft, keine Hierarchien, Güter verwaltet von lokalen Syndikaten. „Wir sind in Hildesheim dabei, eine Ortsgruppe zu gründen“, sagt er. Es tut sich also doch was außer Futtern.

Zwischen dem gehackten Türkischen Salat mit roten Zwiebeln, Koriander, Paprika, Gurken und Jogurt-Chili-Dressing (wahlweise auch vegan) und der Mandelsuppe mit gebackenen Zwiebeln lerne ich auch meine Nachbarn zur anderen Seite kennen, aus Hannover. „Morgen ist Nord-Regionaltreffen in Hamburg, deswegen sind wir hier“, sagt Daniel. 30 Leute aus Hildesheim und Hannover, Bielefeld, Osnabrück und Bremen haben sich hier am Rande des Hamburger Schanzenviertels eingefunden. Dazu Gäste von den frisch gegründeten Ortsgruppen in Kiel und Lübeck.

Der Verdacht, Libertarismus und Anarchie seien 70 Jahre nach der Spanischen Revolution bloß noch die träumerischen Ideen einer längst verglühten, visionären Generation, bestätigt sich nicht: „Wir haben ordentlichen Zulauf von Studenten auch 30 Jahre nach Gründung der FAU“, erklärt mir Pingo, der an diesem Abend kocht. Das liege auch daran, dass es sonst keine gute Interessenvertretung bei Studentenjobs gebe. „In Hamburg sind wir aber stark im Bereich Kultur beschäftigt.“ Aktionen habe es in diesem Jahr zum Beispiel gegen die Kette „Plus“ gegeben. „Wir haben die Leute informiert, wie die ihre Mitarbeiter in Spanien behandeln und so zum Boykott aufgerufen“, sagt Daniel.

Das Libertäre Volksmenü tischt Pingo immer dann auf, wenn er Zeit dafür findet, das nächste Mal am 23. September. „Aber wer uns kennenlernen will, kann auch Freitags abends reinschauen“ empfiehlt er, und reicht Kichererbsen-Salat mit Kürbis und als Nachtisch Datteln in Kaffee. Die gibt es freitags nicht, dafür wird aber die libertäre Kneipenrunde veranstaltet. Auch da soll aber die Idee die Leute zusammenbringen, nicht das Konzept des Abends. JOHANNES HIMMELREICH