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Ein See aus Uneigentlichkeit

Mutmaßungen über das Verschwinden: Nina Jäckles Roman „Gleich Nebenan“

Figuren und Häuser sträuben sich, in einen inneren Film überführt zu werden

In Nina Jäckles Roman „Gleich Nebenan“ spielt sich das Meiste in einer Grauzone des Möglichen ab, in der viel gemutmaßt, jedoch kaum etwas gewusst wird. Eine Frau durchleuchtet das Leben ihrer Nachbarin, beobachtet sie heimlich, versucht in Gesprächen am Gartenzaun oder in deren Küche herauszufinden, was tatsächlich mit ihrem angeblich ertrunkenen Sohn geschehen ist. Dabei dringt sie immer tiefer ein in eine rätselhafte Familiengeschichte. Denn auch die Tochter und der Ehemann der Nachbarin sind vor vielen Jahren plötzlich verschwunden.

Es kursieren mehrere, sich widersprechende Versionen dieser Geschichte um Lüge und Verrat, und dem Leser obliegt es, so etwas wie eine Melodie aus dem polyphonen Stimmengewirr herauszuhören. Wie der blinde Ehemann der Hobby-Detektivin tastet man sich durch eine Story, die keinerlei Auskunft gibt über das Aussehen der Figuren oder der Häuser, die sie bewohnen, und die sich deshalb vehement dagegen sträubt, in einen inneren Film überführt zu werden.

Das ist natürlich genau so gewollt, ist dem literarischen Konzept der in Berlin lebenden Autorin geschuldet: Jede Geschichte ein genau bemessener, streng begrenzter Erzählraum. Im Kurzgeschichten-Band „Es gibt solche“ und dem Roman „Noll“ hat die 1966 in Schwenningen geborene Nina Jäckle diesen reduzierten Stil kultiviert. Dass sie ihn in „Gleich Nebenan“ ins Extreme steigert, hat dem Buch jedoch leider nicht gut getan. Denn die poetische Leichtigkeit, die ihre früheren Texte auszeichnet, ist einer gestelzten Konstruiertheit gewichen, die immer wieder in Sätzen wie dem folgenden kulminiert: „Ob die Tochter der Nachbarin weiß, dass ihr Bruder ertrunken ist, ob sie miteinander gesprochen haben, der Bruder und die Schwester, ob sie sich am Telefon darüber unterhielten, dass der Vater in die Stadt zurückgegangen war, dass die Mutter nun allein im Haus lebt, frage ich.“

Derart umständliche Verklausulierungen lassen „Gleich Nebenan“ langsam, aber sicher in einem See aus Uneigentlichkeit ersaufen. Die ständigen „frage ich“-, „sagt er“-, „erzählt sie“-Anhängsel sind zudem mentale Stolpersteine. Sie beeinträchtigen den Lesefluss erheblich und wirken wie ein Schluckauf: Man nimmt plötzlich nichts anderes mehr wahr.

Auch die komplexe Erzählstruktur, in der sich immer wieder Figuren in anderen spiegeln, liefert keine Rechtfertigung. Denn die Sprache ist nicht Erzählstimme einer, sondern aller Figuren, fungiert somit nicht zur Charakterisierung einer individuellen Wahrnehmungswelt, sondern als literarischer Stil.

Immer dann, wenn sich der Text wie zu Beginn der zweiten Hälfte auf den gut konstruierten Plot konzentriert, wird es merklich spannender. Man wird hineingezogen in die seltsame Welt einer hochgradig pathologischen Familie, möchte herausfinden, welches Ereignis sie vor vielen Jahren zum Implodieren brachte. Leider hält die Geschichte diesen Schwung nicht lange durch, verfällt schon bald wieder in ihre hermetische Kunstsprache.

Als bloßes „Erwähnen ohne Details“ beschreibt die Protagonistin einer von Nina Jäckles Kurzgeschichten die Art und Weise, wie ihr Freund zu ihr spricht: ein Urteil, das sich erstaunlich gut auf „Gleich Nebenan“ übertragen lässt.

ANDREAS RESCH

Nina Jäckle: „Gleich Nebenan“, Berlin Verlag 2006, 128 S., 18 €

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