„Wir wollen mit alten Systemen brechen“

Grünen-Fraktionschefin Renate Künast bemerkt ein starkes Interesse ihrer Partei an grundsätzlichen Debatten. Das zweite grüne Top-Thema soll die Bildung werden. In der Koalitionsfrage plädiert sie für Offenheit abseits der „alten, roten Option“

INTERVIEW: U. WINKELMANN

taz: Frau Künast, welche Botschaft Ihrer Basis nehmen Sie vom Zukunftskongress mit?

Renate Künast: Die eigentliche Botschaft des Kongresses war für mich eine emotionale: Ja, wir wollen diskutieren, und ja, wir wollen uns in ganz grundsätzlichen Fragen engagieren.

Für die taz war der Wunsch nach einer Überwindung der rot-grünen Regierungsfehler in der sozialen Frage sehr spürbar …

Es wäre ein Missverständnis, zu glauben, dass eine Regierungszeit dazu da ist, in wenigen Jahren alle Visionen umzusetzen. Visionen muss man haben, aber eine Regierung kann bloß Weichen stellen und Reformschritte verankern. In der Ökologie wie in der sozialen Gerechtigkeit hat sich der Erkenntnisstand außerdem weiterentwickelt: Die Klimaforschung verrät, dass wir unsere Annahmen zur Klimaveränderung weit schärfer fassen und deshalb radikalere Ziele formulieren müssen – was wir begonnen haben. In der sozialen Frage hat sich gezeigt, dass wir über Transferleistungen hinaus diskutieren müssen: Richtung Bildung. Für mich ist „Kinder und Bildung“ das zweite Standbein der Grünen: die Strukturen und Institutionen so zu ändern, dass jeder kleine Mensch sich entwickeln kann.

Es sieht aber so aus, als wenn die Arbeitsmarktpolitik für viele Grüne mindestens ebenso zentral wie Fragen der Bildung wäre – und als wenn hier das Thema „bedingungsloses Grundeinkommen“ an die Grünenspitze herangetragen würde.

Die Debatte müssen wir aufnehmen. Für mich war Hartz IV der – wenn auch mit Fehlern behaftete – Ausgangspunkt für die Entwicklung nicht eines bedingungslosen Grundeinkommens, sondern eines umfassenden Konzepts der aktivierenden Grundsicherung. Und wenn der Staat die Menschen weiterhin aktivieren können muss, sind wir schon wieder beim Thema Bildung und Schule.

Ist demnach neben der Ökologie also Bildung der zweite Punkt, mit dem Sie zur SPD wie zu Union und FDP hin Anschluss suchen?

Ich diskutiere nicht um der Anschlussfähigkeit willen. Wir diskutieren Inhalte, weil es sachlich dringend nötig ist.

Die Frage, in welche Richtung die Grünen marschieren, steht aber in jeder Zeitung.

Natürlich muss ich immer imstande sein, eine Regierungsmöglichkeit jenseits der gegenwärtigen großen Koalition aufzuzeigen. Wir wollen zu jedem Zeitpunkt eine Alternative zu Schwarz-Rot darstellen.

Ihr Vizefraktionschef Jürgen Trittin sagt, in Fraktion und Grünenspitze gebe es eine Mehrheit dafür, die Koalitionsfrage Richtung Rot-Grün oder Rot-Rot-Grün zu stellen.

Das stimmt so nicht. Die Klausur der Bundestagsfraktion hat ebenso wie die Sitzung der Länder-Fraktionsvorsitzenden in der vergangenen Woche eine große Offenheit ergeben: Es gab keine Festlegung auf Farbvarianten. Aus den Bundesländern wurde berichtet, dass wir für Koalitionsdebatten offen sein müssen, weil alle Koalitionen eben Jahre Vorlauf brauchen. Auch wurde der desolate Zustand der SPD in vielen Ländern beklagt und teilweise die Frage aufgeworfen, wie man an die alte bürgerliche Mitte herankomme – die auch für Klimapolitik offen ist.

Also wird überall die Annäherung ans schwarze oder schwarz-gelbe Lager gesucht.

Es geht nicht um Annäherung. Aber es gibt eben nicht nur die alte, rote Option. Machen wir uns doch nichts vor: Auch die SPD war nie wirklich für den Atomausstieg oder den Abbau der Kohlesubventionen. Keine Partei will so wie wir mit alten Systemen brechen. Wir können nur unser Profil schärfen und dann die Koalitionsfrage aktuell und vor Ort beantworten.

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